Neue Prothesen, die Händen schon sehr ähnlich sind

HEIDELBERG. Deutschen und britischen Forschern ist es gelungen, Handprothesen zu entwickeln, bei denen sich jeder Finger einzeln bewegen lässt. So entsteht ein Griffspektrum, das mit den herkömmlichen Prothesen nicht möglich ist, etwa einen Fahrstuhlknopf zu drücken, eine Scheckkarte zu halten, auf einer Tastatur zu schreiben oder eine Tasche zu tragen.

Von Ingeborg Bördlein Veröffentlicht:

Der weltweit erste Patient, der gleich zwei dieser neuen Handprothesen an der Orthopädischen Uniklinik in Heidelberg getestet hat, ist Sören Wolf. Geboren wurde der 18-Jährige mit nur einer Hand. Das "formschlüssige Greifen" sei mit den neuen Prothesentypen deshalb möglich, weil Gegenstände unterschiedlicher Form und Beschaffenheit von den beweglichen Fingergelenken ganz umschlossen werden können. Die Krafteinwirkung verteile sich dabei auf alle Finger, erklärt Orthopädie-Techniker Alfons Fuchs von der Orthopädischen Uniklinik Heidelberg.

Auf zwei Prinzipien beruhen die Entwicklungen: Die "Fluidhand" der Wissenschaftler um den Ingenieur Stefan Schulz vom Forschungszentrum Karlsruhe funktioniert hydraulisch nach dem Vorbild eines Spinnenbeins. Über eine Minihydraulikpumpe wird aus einem miniaturisierten Behälter Flüssigkeit in die Antriebselemente aus Gummi in den einzelnen Fingergelenken gepumpt. Je nach Öldruck lässt sich jeder Finger strecken oder beugen.

Mehr als fünf verschiedene Greifarten sind möglich: Beim Indexgriff etwa wird der Zeigefinger ausgestreckt. So gelingt das Tippen auf einer Tastatur. Mit dem Pinzettengriff, wenn also Daumen-, Zeige- und Mittelfinger zusammengeführt werden, können kleine Gegenstände, etwa Gummibärchen, aufgehoben werden. Der Zylindergriff erlaubt es, einen Becher und der Lateral- oder Schlüsselgriff, eine Scheckkarte zu halten.

Gesteuert wird die Bewegungsabfolge über einen Mikrocomputer, der seine Befehle über die Muskelbewegungen der Prothesenträger bekommt. Dabei werden myeloelektrische Sensoren verwendet, wie sie in der Prothetik schon lange genutzt werden. Über kleine Elektroden - auf der Haut über den Armmuskeln platziert - werden elektrische Signale der Muskelbewegungen von wenigen tausendstel Volt gemessen, entstört und etwa tausendfach verstärkt an den Mikrocomputer zur Handsteuerung weitergeleitet.

Sogar die Möglichkeit, eine Art von Tastgefühl zu haben, haben die Karlsruher Entwickler in ihren Prototypen eingebaut. In den Fingerspitzen sind dazu Sensoren angebracht, die die Stärke des Drucks mit den Fingern über Kraftrückkopplung messen und durch eine leichte Vibration anzeigen. Die Kunsthand, die mit Silikon überzogen ist und sich weich und elastisch anfühlt, wiegt unter 400 Gramm - ist also so leicht wie eine unversehrte Hand.

Die Prothese ist nicht schwerer als eine Hand.

Die "Fluidhand" ist noch ein Prototyp, der bald dem zweiten Patienten in Heidelberg angepasst wird. Dagegen wird die "i-Limb"-Hand der schottischen Firma Touch Bionics schon serienmäßig produziert. Zu den ersten Empfängern gehörten verletzte US-Soldaten aus dem Irakkrieg. Die Finger werden hier über elektrische Minimotoren aktiviert. Um einzelne Griffmuster zu erzeugen, muss bei diesem Modell der Daumen der gesunden Hand zu Hilfe genommen werden. Die elektrischen Muskelreize werden wie bei der "Fluidhand" aus dem Armstumpf durch spezifische Muskelbewegungen gesteuert, die der Prothesenträger schon nach kurzem Training mit einem Ergotherapeuten beherrscht.

Etwa 26 000 Menschen in Deutschland sind aufgrund eines Unfalls, einer Krankheit oder einer Dysmelie auf eine Handprothese angewiesen. Doch die bisher eher starren Prothesen ohne Fingerbeweglichkeit werden von jedem dritten Betroffenen nicht regelmäßig benutzt, weil sie zu schwer sind, zu roboterhaft aussehen oder die Funktion nicht befriedigend ist. Die beiden Neuentwicklungen kommen der natürlichen Hand ein wesentliches Stück näher.

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