INTERVIEW

"Wir dürfen die Wurzeln der Genomforschung in Deutschland nicht abschneiden"

Das Deutsche Human-Genomprojekt (DHGP) ist im Juni 2004 nach knapp neun Jahren zu Ende gegangen. Beim DHGP-Nachfolger NGFN, dem Nationalen Genomforschungsnetz, soll der Fokus jetzt auf der Entwicklung medizinischer Anwendungen liegen. Dr. Helmut Blöcker von der Gesellschaft für Biotechnologische Forschung begrüßt dies einerseits. Andererseits sieht er aber auch die Gefahr, daß Deutschland den Anschluß an die internationale Genomforschung wieder verliert, wenn die Grundlagenforschung vernachlässigt wird, wie er im Gespräch mit Philipp Grätzel von Grätz von der "Ärzte Zeitung" gesagt hat. Blöcker war Mitglied im wissenschaftlichen Koordinierungskomitee des DHGP.

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Ärzte Zeitung: Welches Fazit ziehen Sie nach neun Jahren DHGP in der Rückschau?

Blöcker: Insgesamt ein sehr positives. Die deutsche Genomforschung hat sich international einen guten Ruf erarbeitet und kleine, aber sehr wichtige Beiträge zum Humangenomprojekt geleistet. Der Übergang vom DHGP in das Nachfolgeprojekt, das Nationale Genomforschungsnetz NGFN, macht mich aber auch nachdenklich: Der Schwerpunkt künftiger Forschungsförderung liegt stärker auf der Seite der medizinischen Anwendungen. Dadurch werden wir schneller medizinische Fortschritte sehen, und es werden neue Forscher angezogen, was gut ist. Andererseits wird das dazu führen, daß manche Projekte, die in den letzten Jahren in Deutschland aufgebaut wurden, durch das Raster der Förderung fallen, zum Beispiel im Bereich der systematischen Genomforschung, die künftig kaum noch gefördert werden soll.

Ärzte Zeitung: In anderen Ländern werden die Schwerpunkte anders gesetzt?

Blöcker: Die genetische Grundlagenforschung wird in den meisten Ländern wesentlich höher gehängt. Wenn wir da in der Champions League mitspielen wollten, müßte die Förderung in diesem Bereich verzehnfacht werden. Nur ein Beispiel: Die National Institutes of Health in den USA unterstützen die Genomsequenzanalyse in den nächsten drei Jahren mit weiteren 400 Millionen US-Dollar. Auch Japan gibt alleine für dieses Teilgebiet der Genomforschung jährlich Dollarbeträge in zweistelliger Millionenhöhe aus. Frankreich, England, Süd-Korea, Taiwan und vor allem China könnte man auch noch nennen. Uns in Deutschland wurde dagegen angedeutet, daß für weitere Sequenzanalyseprojekte nur sehr begrenzte Mittel zur Verfügung stehen werden. Wir haben Anträge in der Größenordnung von drei Millionen US-Dollar gestellt und wären froh, wenn wir die durchbekämen.

Ärzte Zeitung: Von einer Förderung der angewandten Forschung erhofft sich die Politik auch wirtschaftliche Impulse...

Blöcker: Ich denke, das ist zu kurz gesprungen. Die Grundlagenforschung von heute liefert die angewandte Forschung von morgen und die Produkte von übermorgen. Wir dürfen uns die Wurzeln nicht abschneiden.

Ärzte Zeitung: Besteht die Gefahr, daß Deutschland den Anschluß an die internationale Genomforschung wieder verliert?

Blöcker: Ich denke schon. Das fängt schon damit an, daß der Zugriff auf die jeweils neuesten Forschungsergebnisse für uns schwieriger wird, wenn wir in den Gremien und Konsortien nicht mehr in dem Maße vertreten sind wie heute. Noch vor ein paar Jahren erschienen alle wichtigen Forschungsergebnisse innerhalb von 24 Stunden in den internationalen Datenbanken. Das hat sich geändert. Wer heute nicht mehr eng in die Szene eingebunden ist, wartet mitunter ein halbes Jahr auf Ergebnisse, mit denen andere schon längst arbeiten können. In der Genomforschung ist das eine halbe Ewigkeit.

Ärzte Zeitung: Abgesehen von der Forschung hat das DHGP auch in Sachen Öffentlichkeitsarbeit neue Maßstäbe gesetzt. Sie selbst haben sich in fünf Jahren ungefähr 40 öffentlichen Diskussionen gestellt. War das die Mühe wert?

Blöcker: Ein klares Ja. Die Begeisterung und Wißbegierde, mit denen wir auf diesen Veranstaltungen konfrontiert wurden, hatte so kaum einer erwartet. Nicht nur das Humangenomprojekt, die ganze biomedizinische Forschung mit ihren medizinischen und ethischen Implikationen interessiert die Bevölkerung enorm. Mein persönlicher Eindruck ist, daß die Menschen auch bei ethisch problematischen Fragen längst nicht so skeptisch sind, wie die Politik zu glauben scheint.

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