Enzymhemmer legen verschüttete Erinnerungen frei

GÖTTINGEN (eb). Erinnerungen gehen verloren und Neues bleibt nicht mehr hängen. Das ist Realität für Demenz-Patienten. Eine geistig stimulierende Umgebung kann jedoch auch bei Demenz die kognitive Leistung stärken. Mehr noch: Gehirnjogging ermöglicht auch den Zugriff auf bereits vergessene Inhalte, schließen Göttinger Forscher aus Tierexperimenten. Mit bestimmten Enzymhemmern lässt sich dieser Effekt auch ohne Training erreichen.

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Wenn Nervenzellen im Gehirn ihre Funktion verlieren, sterben sie ab. Bis zu einem Drittel weniger Gehirnvolumen weisen Alzheimer-Patienten bei ihrem Tod auf. Im Verlauf der Erkrankung gehen Erinnerungen aber nicht unbedingt gleich für immer verloren, vermuten Neurowissenschaftler. Sie werden für das Bewusstsein unerreichbar, weil die Nervenverbindungen zu den Speicherorten untergehen. "Andere Neurone können die Kontakte übernehmen, wenn man ihnen dabei hilft", sagt Dr. André Fischer vom European Neurosciences Institute Göttingen (ENI-G).

Hirnjogging hilft, Erinnerungen wiederzuerlangen

Fischer und sein Team sowie US-Forscher aus Boston schließen das aus Experimenten mit einem Alzheimer-Maus-Modell. Den Forschern gelang es, mit Hirnjogging und mit chemischen Substanzen die Lernfähigkeit zu verbessern und die Erinnerung an bereits Vergessenes wiederzuerlangen, teilt die Universität Göttingen mit. Die Ergebnisse wurden in der Zeitschrift "Nature" vom 29. April publiziert. Sie sollen als Ausgangspunkt für klinische Studien dienen.

Neurowissenschaftler wissen inzwischen recht viel über die molekularen Veränderungen im Gehirn von Alzheimer-Patienten. So ist in den betroffenen Nervenzellen das Protein p35 zu aktiv und beschädigt ein Gerüst-Eiweiß mit dem Namen Tau. Das innere Skelett der Nervenzell-Fortsätze bricht zusammen. Die Nerven können nicht mehr über Kontaktstellen miteinander kommunizieren und sterben schließlich ab. Wie der fortschreitende Hirnschwund wirksam aufgehalten werden kann, ist jedoch noch immer ein Rätsel.

Lassen sich Lernfähigkeit und Erinnerungsvermögen bei demenzkranken Mäusen wieder herstellen? Dieser Frage ging Fischer in der aktuellen "Nature"-Arbeit nach. Er nutzte hierzu ein in den USA entwickeltes Mausmodell. Mithilfe einer Substanz im Futter der Nager konnte Fischer das nervenschädigende Protein p25 - eine aggressivere Variante von p35 -beliebig in ihrem Gehirn an- oder abschalten. Wenn p25 über vier Wochen lang angeschaltet ist, werden die Nager ziemlich lernschwach. Nach sechs Wochen erinnern sie sich kaum noch an Dinge, die sie vor langer Zeit gelernt haben. Im Gehirn haben die Tiere alle Merkmale einer Alzheimer-Krankheit, etwa typische Eiweiß-Ablagerungen.

Spielzeug verbesserte das Orientierungsvermögen

Zunächst setzte Fischer erwachsene Mäuse nach sechs Wochen p25-Behandlung und messbarem Hirnschwund für vier Wochen in eine bereichernde Umwelt mit viel Mäuse-Spielzeug und verstecktem Futter. Bei gleichbleibend geringer Hirnmasse verbesserten sich das räumliche Orientierungsvermögen und die Fähigkeit, geistige Verknüpfungen herzustellen, bei den Lern-Mäusen deutlicher als bei den Artgenossen in langweiliger Standard-Unterbringung.

Die Nager in abwechslungsreicher Umgebung begannen sogar, sich an Dinge zu erinnern, die sie längst vergessen hatten. Biochemische Untersuchungen zeigten, dass im Gehirn der geförderten Mäuse mehr Dendriten und Synapsen in den betroffenen Hirnregionen vorhanden waren. Es gab Anzeichen dafür, dass dieser Effekt auf der Aktivierung von Nerven- und Synapsen-typischen Genen beruhte.

Eine Aktivierung von bestimmten Gen-Familien lässt sich auch mithilfe chemischer Substanzen erreichen. Fischer prüfte als Nächstes, ob die Hemmung von Enzymen, die an der Neurodegeneration beteiligt sind, genauso Lern- und Erinnerungs-fördernd wirkt wie der Mäuse-Spielplatz. Einmal täglich erhielten gesunde und bereits erkrankte Mäuse Substanzen, die Histon-Deacetylasen (HDAC) hemmen.

Längst vergessenes Wissen wurde reaktiviert

Alle behandelten Mäuse steigerten ihr Lernverhalten deutlich gegenüber unbehandelten Tieren. Auch durch die HDAC-Hemmer konnten die Alzheimer-Mäuse längst vergessenes Wissen reaktivieren. "Sowohl geistige Stimulation als auch die Behandlung mit HDAC-Hemmern könnte die Gedächtnisleistung von bereits erkrankten Alzheimer-Patienten verbessern", so Fischer.

"Unsere Studien zeigen, dass die verbliebenen Nervenzellen die Aufgaben der bereits abgestorbenen Hirnzellen teilweise übernehmen können, wenn sie gefordert oder mit Arzneien behandelt werden. Das lässt hoffen, dass wir auch Alzheimer-Patienten helfen können, den Kontakt zu ihren Erinnerungen zu halten und lernfähig zu bleiben. Ob wir den Verlauf der Erkrankung mit HDAC-Hemmern bei Mäusen ganz aufhalten können, wissen wir noch nicht. Unsere Forschungen deuten jedoch darauf hin."

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