Eher kontraproduktiv

Impfpflicht würde Masernproblem nicht lösen

Eine Impfpflicht bei Masern würde ungeimpfte Erwachsene als Verursacher nicht erreichen und Skeptiker vor den Kopf stoßen. Ausbrüche sind nur mit mehr Engagement zu verhindern, dazu gehören auch mehr Mittel für Gesundheitsämter.

Von von Lothar H. Wieler Veröffentlicht:
Ein Großteil der Masernkranken in Deutschland sind junge Erwachsene.

Ein Großteil der Masernkranken in Deutschland sind junge Erwachsene.

© fit-for-travel / dpa / picture-a

Impfungen gehören zu den wichtigsten und wirksamsten präventiven Maßnahmen, die in der Medizin zur Verfügung stehen. Sie bieten Schutz nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Gemeinschaft. Dennoch gibt es bei allen Krankheiten und Altersgruppen Impflücken. Derzeit stehen diesbezüglich die Masern im Mittelpunkt. Es gibt immer wieder hohe Erkrankungszahlen, Ausbrüche und einzelne Todesfälle, zuletzt im Frühjahr in Essen. Zudem wurde das Ziel der Ausrottung der Masern, ein gemeinsames Ziel aller europäischen Staaten, in Deutschland bislang deutlich verfehlt.

Solche Ereignisse sind nicht selten Anlass, eine Pflicht zur Masernimpfung oder für weitere Impfungen ins Gespräch zu bringen. Italien und Frankreich haben jüngst die dort schon länger bestehende Impfpflicht um weitere Impfungen erweitert. Auf den ersten Blick scheint eine Impfpflicht die logische Reaktion auf ungenügende Impfquoten zu sein, ganz unabhängig von der Frage der rechtlichen Umsetzbarkeit. Auf den zweiten Blick ist sie es aber nicht – im Gegenteil, sie wäre möglicherweise sogar kontraproduktiv.

Maßgebliche Ursache der Masern-Ausbrüche der vergangenen Jahre sind die großen Impflücken bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Nach Ergebnissen einer RKI-Studie sind bei den 18- bis 44-Jährigen mehr als 40 Prozent nicht gegen Masern ge-impft. Diese Altersgruppe wird aber bei Forderungen für eine Impfpflicht nie erwähnt. Vielen ist die Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) gar nicht bekannt, dass die nach 1970 Geborenen die Impfung nachholen oder vervollständigen sollen, wenn keine zwei Impfungen im Impfausweis vermerkt sind. Die jungen Erwachsenen gehen auch selten zum Arzt. Genau aus diesen Gründen sind Informationskampagnen und aufsuchende Impfangebote dringend erforderlich, um diese Impflücke ein für allemal zu schließen.

Impfskepsis ist nicht das Hauptproblem

Skepsis gegenüber Impfungen muss ernst genommen werden, ist aber nicht das Hauptproblem, sonst gäbe es bei Schulanfängern keine Impfquote von fast 97 Prozent für die erste Masernimpfung. Die Impfquoten bei Schulanfängern sind bisher im Bundesdurchschnitt auch nicht gesunken, zuletzt allerdings auch nicht weiter gestiegen. Auch hier ist noch einiges zu tun. Kinder werden auch oft zu spät geimpft, und es gibt große regionale Unterschiede bei den Impfquoten gerade in den ersten Lebensjahren. Erinnerungssysteme sind daher auch ein probates Mittel, um Impfquoten zu erhöhen. Die 2016 eingeführte verpflichtende Impfberatung vor dem Besuch einer Kindertagesstätte und die Impfstatuskontrolle bei den regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen im Kindesalter wie auch die J1-Untersuchung im Jugendalter sind hier wichtige Bausteine.

Es gibt genügend Gründe fürs Impfen. Eine Impfpflicht könnte auch den Eindruck erwecken, dass diese sachlichen Argumente doch nicht so gut sind. Zudem wäre bei Einführung einer Masern-Impfpflicht Widerstand von Impfgegnern zu erwarten, der personelle Kapazitäten im Öffentlichen Gesundheitsdienst und in Arztpraxen binden würde, die an anderer Stelle dringend gebraucht werden, zum Beispiel bei den aufsuchenden Impfangeboten für junge Erwachsene. Zudem fanden Forscher aus Erfurt und Aachen heraus, dass eine Impfpflicht die Impfbereitschaft für die verbliebenen freiwilligen Impfungen deutlich verringern würde. Offenbar, so vermuten die Wissenschaftler, führt die Einschränkung der Entscheidungsfreiheit dazu, sich diese bei nächster Gelegenheit "zurückzuholen".

Gesundheitsämter müssen Taktgeber vor Ort sein

Um die Masernelimination in Deutschland zu schaffen ist noch viel zu tun. Das RKI hat maßgeblich zu einem 2015 beschlossenen Nationalen Aktionsplan beigetragen, der nun auch umgesetzt werden muss. Voraussetzung für eine Elimination ist nicht die (womöglich auch als preiswerte Maßnahme angesehene) Impfpflicht. Voraussetzung ist vor allem der Wille, Gesundheitsämter personell und finanziell so auszustatten, dass sie als kompetente Taktgeber vor Ort handeln können.

Auch Abrechnungshindernisse sollten abgebaut werden, damit jeder Arztkontakt zum Schließen von Impflücken genutzt werden kann, sodass zum Beispiel der Kinderarzt die anwesenden Eltern mit impfen kann. Solche rein bürokratischen Hindernisse stellen fachlich nicht gerechtfertigte Barrieren dar. Und natürlich brauchen wir motivierte Ärzte, die selbst geimpft sind und jede Gelegenheit nutzen, um ihre Patienten nach deren Impfpass zu fragen. In Deutschland ist noch eine Menge Luft nach oben, bevor die drastische Maßnahme einer Impfpflicht in Erwägung gezogen werden sollte. Machen wir uns nichts vor: Mit stärkerem Willen und mehr Engagement sowie dem Abbau unnötiger Hindernisse sind ausreichende Impfquoten zu erreichen.

Professor Lothar H. Wieler ist Präsident des Robert Koch-Instituts

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