Interviwe

Zentren bringen trägen Darm auf Trab

Schwere Motilitätsstörungen des Darmes werden oft erst spät diagnostiziert. Woran das liegt und wie diese Störungen behandelt werden können, erklärt PD Dr. Jutta Keller im Interview.

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:

PD Dr. Jutta Keller

Zentren bringen trägen Darm auf Trab

© J. Keller

Aktuelle Position: Leiterin der gastrointestinalen Funktionsdiagnostik an der Medizinischen Klinik des Israelitischen Krankenhauses in Hamburg

Karriere: 1994 Staatsexamen, 1996 Dissertation, Weiterbildung zur Internistin und Aufbau der gastroenterologischen Funktionsdiagnostik am Israelitischen Krankenhaus Hamburg. 2006 Forschungsaufenthalt an der Mayo Clinic in Rochester, USA. Seit 2006 Oberärztin. 2005/06 Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität (DGNM). 2007 Habilitation und 2008 Venia legendi.

Schwerpunkte: Reizdarmsyndrom, intestinale Motilitätsstörungen, entzündliche Darmerkrankungen, Mitarbeit an verschiedenen Konsensusempfehlungen der DGVS sowie der DGNM zur Funktionsdiagnostik am Magen-Darm-Trakt. Federführend beteiligt an der S3-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie intestinaler Motilitätsstörungen.

Ärzte Zeitung: Frau Dr. Keller, intestinale Motilitätsstörungen betreffen sehr viele Menschen, schwere chronische Formen sind allerdings wenig bekannt. Woran liegt das?

PD Dr. Jutta Keller: Das liegt besonders daran, dass es nicht viele Zentren gibt, an denen schwere Motilitätsstörungen diagnostiziert werden können. Dafür sind oft sehr aufwändige technische Methoden notwendig, die auch nicht an jeder Uniklinik verfügbar sind. Hinzu kommt, dass einige dieser Störungen selten sind, so dass daran auch weniger gedacht wird.

Treten diese Störungen der Darmmotilität als primäre Krankheitsbilder auf oder sind sie bevorzugt eine Sekundärerscheinung anderer Grunderkrankungen?

Keller: Das kommt unter anderem darauf an, welche Altersgruppe man betrachtet. Treten schwere Motilitätsstörungen bereits im Kindesalter auf, handelt es sich meist um angeborene Störungen.

Bei Erwachsenen ist es wichtig, nach Grunderkrankungen zu suchen, die Darmmotilitätsstörungen verursachen können. Dazu gehören manche neurologische Erkrankungen oder einige endokrinologische Erkrankungen. So können im Rahmen eines Diabetes mellitus schwere Darmmotilitätsstörungen auftreten.

Oft findet man bei der Ursachensuche jedoch keine auslösende Grunderkrankung und man wird das Krankheitsbild als primär betrachten.

Könnten Sie ein Beispiel nennen?

Keller: Die schweren intestinalen Motilitätsstörungen sind vor allem danach benannt, welche Symptome sie auslösen und an welchem Organ sie auftreten. Sie können alle sowohl primär als auch sekundär auftreten, etwa als chronische intestinale Pseudoobstruktion (CIPO), der schwersten Form einer Dünndarmmotilitätsstörung.

Die CIPO sehen wir zum Beispiel sekundär bei Patienten mit Morbus Parkinson. Genetische Störungen spielen bei manchen dieser Krankheitsbilder eine Rolle, lassen sich aber bislang in der "Routinediagnostik" nicht nachweisen. Häufig finden wir trotz aller Sorgfalt keine Ursache für die Motilitätsstörung.

Gibt es ein gemeinsames pathophysiologisches Korrelat intestinaler Motilitätsstörungen?

Keller: Wir finden entweder eine Störung auf neurologischer Ebene, die das Gehirn oder das Rückenmark betrifft, aber am häufigsten das Nervensystem des Darmes. Es kann auch sein, dass die Muskulatur des Darmes erkrankt ist, so dass die "nervalen Befehle" nicht umgesetzt werden können.

Hinzu kommen mesenchymale Störungen mit quantitativen und/oder morphologischen Zellveränderungen sowie Störungen bestimmter modifizierter Muskelzellen, den interstitiellen Cajal-Zellen (ICC), die zwischen Nerven und Darmmuskulatur vermitteln.

Es gibt symptomatische Überschneidungen von Darmmotilitätsstörungen mit dem Reizdarmsyndrom. Lässt sich dieses anamnestisch und klinisch von intestinalen Motilitätsstörungen und mechanischen Obstruktionen differenzieren?

Keller: Bei milden Formen intestinaler Motilitätsstörungen ist das oft nicht möglich, zumal wir wissen, dass beim Reizdarm-Syndrom ebenfalls Darmbewegungsmuster gestört sein können.

Wenn aber schwere Varianten vorliegen, bei denen die Motilitätsstörungen an sich das ganze Krankheitsbild erklären, etwa bei einer intestinalen Pseudoobstruktion, dann gibt es differenzierende Merkmale.

Zum Beispiel kommt es beim Reizdarmsyndrom nicht vor, dass die Patienten sichtbare Veränderungen in bildgebenden Verfahren wie stark aufgeweitete Darmschlingen entwickeln.

Reizdarm-Patienten klagen gehäuft über zusätzliche extraintestinale Beschwerden wie Kopfschmerzen oder Schmerzen an Sehnenansätzen. Wenn dagegen Zeichen anderer neurologischer Störungen vorliegen, zum Beispiel eine Blasenentleerungsstörung, dann deutet das eher auf eine "echte" Motilitätsstörung des Darmes hin.

Aus der von Ihnen und Ihren Kollegen zu dem Thema verfassten S3-Leitlinie zu Darmmotilitätsstörungen geht hervor, dass es sich bei den schweren Motilitätsstörungen um komplexe und oft seltene Krankheitsbilder handelt. Welche Chance hat man, in angemessener Zeit zu einer Diagnose zu kommen?

Keller: Das hängt davon ab, wie häufig, wie akut und wie schwer das Krankheitsbild ist und wie aufmerksam die untersuchenden Ärzte sind.

Es ist richtig und wichtig, dass bei entsprechenden Beschwerden erst einmal häufigere Verdachtsdiagnosen abgeklärt werden, etwa chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, Verwachsungen oder Tumorleiden. Dem kommen wir mit Blutuntersuchung, Endoskopie, Sonographie und anderen bildgebenden Verfahren auf die Spur.

Wenn solche Standarduntersuchungen keine wegweisenden Befunde erbringen, sollte die Diagnostik bei Patienten mit gravierenden Beschwerden hiermit aber nicht aufhören.

Können Sie ein Beispiel für eine Motilitätsstörung schildern?

Keller: Eine 45-jährige Frau hatte ungefähr zehn Jahre vor ihrer Vorstellung bei uns einen schweren Motorradunfall mit Wirbelsäulen- und Rückenmarksverletzungen inklusive Lähmungserscheinungen der Extremitäten. Diese hatten sich zurückgebildet, geblieben war aber eine hartnäckige Verstopfung, die mit der Zeit immer schlimmer geworden war.

Wir haben diese Patientin ausführlich untersucht, eine komplette Motilitätsdiagnostik des Magen-Darm-Trakts vorgenommen und praktisch nur Normalbefunde erhoben. Eine Ausnahme bot der Hinton-Test, mit dem wir eine stark verzögerte Dickdarm-Passagezeit ermitteln konnten.

Die Patientin konnte zudem den anorektalen Sphinkter beim Stuhlgang nicht ausreichend entspannen, der Schließmuskel öffnete sich nicht zeitgerecht.

Alle konservativen Therapieversuche scheiterten, weshalb wir bereits eine Kolektomie erwogen hatten. Zunächst erfolgte jedoch ein zweimonatiger Therapieversuch mit Biofeedback-Training zur Verbesserung der Entleerungsfunktion. Dieser war erfolgreich, und die Operation konnte abgesagt werden.

Die verzögerte Dickdarmpassage war demnach als "Rückstau" zu interpretieren, und die Patientin litt unter einer behandelbaren Beckenbodendyssynergie.

Ich kann also nur empfehlen: Wenn heftige Beschwerden vorliegen, die durch übliche diagnostische Methoden nicht erklärt werden können, sollten diese Patienten weiter an ein gastroenterologisches Zentrum überwiesen werden, wo spezifische diagnostische Methoden, vor allem intestinale Motilitätsmessungen, gemacht werden können.

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Wie lässt sich ein solches Zentrum finden?

Keller: Komplexe Methoden der Darmmotilitätsmessung bieten deutschlandweit vielleicht sechs bis zehn spezialisierte Zentren an. Am besten weiterhelfen können Gastroenterologen, die entsprechende Informationen bei Fachkongressen erhalten, ansonsten kann man das im Internet recherchieren.

Was wünschen Sie sich vom Hausarzt und niedergelassenen Internisten in Bezug auf die Diagnostik?

Keller: Mir geht es vor allem um Patienten mit gravierenden Symptomen. Wenn bei ihnen die normale Diagnostik ausgeschöpft worden ist und diese keine fassbaren Ergebnisse gebracht hat und wenn dem Patienten mit Ernährungsumstellung und anderen Maßnahmen nicht geholfen werden konnte, dann sollte er zum Spezialisten geschickt werden. Das würde den Weg, den manche dieser Patienten hinter sich haben, wesentlich verkürzen.

Wie sieht denn in solchen Fällen bei Ihnen in Hamburg eine abgestufte Diagnostik aus?

Keller: Wenn in der Vordiagnostik noch nicht alle Parameter sekundärer Formen von Motilitätsstörungen geklärt worden sind, zum Beispiel seltene Immunerkrankungen, holen wir das nach. In der Regel handelt es sich um eine einfache Blutdiagnostik. Wichtig ist zudem, dass der gesamte Magen-Darm-Trakt bildgebend untersucht wird. So ist bei vielen Patienten, die zu uns kommen, der Dünndarm noch nicht erfasst worden.

Auch dort können sich Verwachsungen, Stenosen oder Divertikel befinden, die die Beschwerden erklären können. Bei Patienten mit deutlichen Beschwerden testen wir die Transportfunktion des gesamten Magen-Darm-Trakts.

Das sind vielfach einfache Atemtests, die uns sagen können, wie rasch Magen und Dünndarm den Nahrungsbrei transportieren.

Hinzu kommt der erwähnte Hinton-Test für den Dickdarm mit röntgendichten Kügelchen, die die Patienten über mehrere Tage schlucken, danach erfolgen Röntgenaufnahmen, die die Verteilung der Kügelchen im Darm und die Ausscheidung sichtbar machen.

Die Bewegungsmuster des Dünndarms und, je nach Hauptsymptomatik, auch jene des Dickdarms werden erfasst, um zu sehen, ob die Darmmuskulatur zu schwach ist oder ob die nervale Regulation gestört ist.

Ist unter Umständen auch eine molekulargenetische Diagnostik angezeigt?

Keller: Das ist selten der Fall. Abgesehen vom Morbus Hirschsprung gibt es kaum bekannte Parameter, nach denen man suchen könnte. Die Molekulargenetik hätte im Allgemeinen auch keine therapeutischen Konsequenzen.

Ausnahme sind Familien, in denen schwere Formen der Motilitätsstörungen gehäuft vorkommen. Bei ihnen könnten entsprechende Defekte früher erkannt werden, ohne zum Beispiel Kindern eine aufwendige Motilitätsdiagnostik zumuten zu müssen.

Es gibt kaum Prokinetika, die an Dünn- und Dickdarm wirken. Welche Chancen bestehen überhaupt, bei den schweren Formen intestinaler Motilitätsstörungen therapeutisch erfolgreich zu sein?

Keller: Es gibt schon Prokinetika, die an Dünn- und Dickdarm wirken, sie sind nur nicht für die angesprochenen Indikationen zugelassen. Das gilt zum einen für die altbekannten Acetylcholinesterase-Inhibitoren, die aber mit vielen unerwünschten Wirkungen verbunden sind. Prucaloprid, das für Frauen mit chronischer Obstipation zugelassen ist, wirkt auf Rezeptoren, die im gesamten Magen-Darm-Trakt verbreitet sind.

Wir haben damit gute Erfahrungen bei schwer betroffenen Patienten mit intestinalen Pseudoobstruktionen gemacht, es gibt auch kleine Studien mit guten Ergebnissen. Aber eine Zulassung liegt nicht vor, was bei dauerhafter Therapie zu Problemen bei der Verordnung führt.

Letztlich behandeln wir stets symptomatisch. Wir müssen die Ernährung der Patienten sichern, möglichst als orale Ernährung, gegebenenfalls mit Zusatznahrungen oder vorwiegend flüssiger Kost, die leichter transportiert werden kann.

Eine zu geringe Motilität versuchen wir medikamentös anzuregen, spastische Bewegungsmuster versuchen wir zu bremsen. Wenn sich aufgrund unzureichenden intestinalen Transports bakterielle Fehlbesiedlungen bilden, hilft die antibiotische Therapie vielen dieser Patienten gut.

Dabei werden möglichst Antibiotika genutzt, die im Darm verbleiben und nicht systemisch aufgenommen werden. Bei sehr ausgeprägten Beschwerden können wir die Patienten nicht mehr oral ernähren. Dann ist die parenterale Ernährung angezeigt.

Selten, wenn auch letzteres nicht mehr ausreichend gelingt, kann die Dünndarmtransplantation erforderlich sein.

Können die Patienten selbst etwas tun, um ihre Situation zu bessern?

Keller: Das oben erwähnte Biofeedback-Training ist nur sinnvoll bei einem gestörten Stuhlgangsverhalten, das ist eine vergleichsweise milde Variante der Motilitätsstörung, die sich unter Umständen gravierend auswirkt.

Wenn tatsächlich strukturelle Störungen am Darm vorliegen im Sinne einer enterischen Neuro- oder Myopathie, einer Neuro-Gliopathie oder Mesenchymopathie, können die Patienten zwar ihre Ernährung auf leicht transportable Nahrung umstellen, aber letztlich können sie mit ihrem Verhalten kaum das chronische Krankheitsbild bessern.

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