HINTERGRUND

Für die Entscheidung über das Schicksal Terry Schiavos würde es auch in Deutschland keine gute Lösung geben

Von Nicola Siegmund-Schultze Veröffentlicht:

    Gelegentlich sind Kranke selbst nach 13 Jahren noch erwacht.
   

Die Frage, ob die 41jährige US-Amerikanerin Terri Schiavo nach 15 Jahren im Wachkoma hätte weiter künstlich ernährt werden sollen, beschäftigt auch die deutsche Öffentlichkeit intensiv. Der Grund: Für die Entscheidung über das Schicksal der Frau, die nach Herzstillstand und Reanimation ins Wachkoma fiel, würde es auch hierzulande keine gute Lösung geben. In Deutschland gibt es etwa 10 000 Wachkoma-Patienten.

Der Hirnstamm ist funktionell vom Hirnmantel abgekoppelt

Das Wachkoma, auch apallisches Syndrom genannt, gehört zu den Dezerebrationssyndromen: Dabei ist der Hirnstamm funktionell vom Hirnmantel abgekoppelt. Ursachen können ausgedehnte bilaterale Schädigungen im Marklager der Großhirnhemisphären sein oder Läsionen im Hirnstamm, ausgelöst durch Hirntraumata, Enzephalitis, Blutungen, Intoxikationen oder, wie bei Terri Schiavo, durch Sauerstoffmangel nach vorübergehendem Herzstillstand.

Patienten mit einem Dezerebrationssyndrom haben motorische, okulomotorische und vegetative Symptome und verminderte Wachheit. Das EEG ist verändert, je nach Ausdehnung und Ort der Läsion und abhängig vom Verlaufsstadium zeigt es alpha-Wellen als Zeichen residueller Reiz- und Signalverarbeitung an.

Das apallische Syndrom ist eine chronische Dezerebration, die wochen- oder monatelang, manchmal auch jahrelang bei entsprechender Pflege andauern kann. Meist stellt sich nach einem tiefen Koma wieder ein Schlaf-Wach-Rhythmus ein, die Patienten öffnen die Augen, im Allgemeinen aber ohne auf sensorische Reize oder andere Formen der Kontaktaufnahme hin den Blick gezielt fixieren zu können.

Der optokinetische Nystagmus kann erhalten sein, die Pupillenreaktion ist intakt. Die Patienten halten die Extremitäten entweder gestreckt, oder die Arme gebeugt und die Beine überstreckt. Der Muskeltonus ist erhöht. Atmung und Kreislauf funktionieren meist. Viele Patienten müssen nur über eine Magensonde (PEG) ernährt werden.

Gibt es von diesem Zustand ein Zurück ins volle Bewußtsein? Immer wieder wird berichtet, daß Patienten sich erholt haben, zum Teil offenbar nach gezielter Stimulation durch Pflegekräfte oder Angehörige. Nach einem Herzinfarkt mit anschließender Wiederbelebung, wie bei Terry Schiavo, besteht vor allem in den ersten drei Monaten des Wachkomas noch eine realistische Chance der Regeneration, bei Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma auch noch innerhalb eines Jahres. Gelegentlich sind Patienten selbst nach 13 Jahren noch erwacht.

"Patienten mit schwersten zerebralen Schädigungen und anhaltender Bewußtlosigkeit haben, wie alle Patienten, ein Recht auf Behandlung, Pflege und Zuwendung", heißt es in den Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung vom Mai 2004. Grundsätzlich seien lebenserhaltende Maßnahmen, einschließlich Ernährung geboten, sofern dies dem geäußerten oder mutmaßlichen Willen des Patienten entspreche.

Der Bundesgerichtshof hat entschieden, daß auf Grund einer Patientenverfügung lebensverlängernde Maßnahmen bei einem zu erwartenden tödlichen Verlauf der anhaltenden Bewußtlosigkeit abgebrochen werden müssen. Nach Meinung von Bundesärztekammer-Präsident Professor Jörg-Dietrich Hoppe läßt sich aber der mutmaßliche Wille bei Schiavo nicht einwandfrei ermitteln. "In solchen Zweifelsfällen hat das Leben absoluten Vorrang", so Hoppe. "Es darf nicht dazu kommen, daß Menschen allein wegen ihres Wachkomas als lebensmüde angesehen werden."

In einem ähnlichen Zustand wie Wachkoma-Patienten befinden sich Patienten mit Locked-in-Syndrom. Diese können sich weder bewegen noch sprechen, sie sind aber bei vollem Bewußtsein. Bei ihnen sind die kortikobulbären oder -spinalen Bahnen geschädigt oder zerstört. Als primäre Ursachen dafür kommen Hirnstammerkrankungen wie Basilaristhrombosen sowie Blutungen oder Kontusionen im Hirnstamm in Frage.

Die Bezeichnung locked-in beschreibt den Zustand der Patienten: Elektrophysiologisch läßt sich zwar Perzeptionsfähigkeit nachweisen, die Patienten können aber kaum noch reagieren. Augen- und Oberlidbewegungen sind allerdings beim klassischen Bild des Locked-in-Syndroms noch möglich. "Es ist wichtig, ein Locked-in-Syndrom vom apallischen Syndrom zu unterscheiden", so der Heidelberger Neurologe Professor Werner Hacke.

Denn die Restmotorik lasse sich zur "letzten, kodierbaren Kommunikation" nutzen: Die vertikale Augenbewegung könne mit "ja" belegt werden, der Lidschluß mit "nein". So lasse sich etwa mit den Patienten abstimmen, ob sie eine Sedierung wünschten, um ihnen das quälende Gefühl der Eingeschlossenheit bei ihrer vermutlich irreversiblen Paralyse zu nehmen. In der Fachliteratur werde nur von einigen wenigen Überlebenden berichtet, so Hacke.

Beim Hirntod gibt es kein Zurück ins Leben

Befreit von einer Stellungnahme zur Prognose sind Ärzte, wenn sie den Hirntod feststellen: Von ihm gibt es kein Zurück ins Leben. Er ist definiert als vollständiger, irreversibler Ausfall der gesamten Hirnfunktion. Der Mensch ist nicht mehr zur Spontanatmung fähig, die Reflexe sind weitgehend ausgefallen, das EEG zeigt eine Nullinie. Der Hirntod wird nach den aktuellen Kriterien der Bundesärztekammer (von 1998) festgestellt.



FAZIT

Am Fall der US-Amerikanerin Terri Schiavo scheiden sich die Meinungen, ob lebenserhaltende Maßnahmen angebracht sind oder nicht. Eines ist sicher: Menschen im Wachkoma leben. Sie sind anhaltend bewußtlos, aber sie sind nicht hirntot. Ob sie jemals kognitive Funktionen wiedererlangen können, läßt sich nur schwer abschätzen. Das gilt auch für einige andere schwere Bewußtseinsstörungen, etwa das Locked-in-Syndrom.

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Partielles Nichtwissen

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