Verkatert in die Vorlesung, mit Pillen zur Prüfung
HAMBURG (dpa). An deutschen Universitäten tobt die Revolution. Keine von unten, sondern eher eine von oben. Mit der Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge haben sich die Hochschulen vom 200 Jahre alten System verabschiedet, das einst von Preußens Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt geprägt wurde.
Statt ihr Studium selbst zu bestimmen, klagen viele der zwei Millionen Studenten immer öfter über eine zunehmende Verschulung der Uni, voll gestopfte Stundenpläne, Klausurenmarathon, Studiengebühren und Überforderung. Der Druck steigt und führt zu alarmierenden Ergebnissen: Fast jeder dritte Student trinkt einer Studie zufolge zu viel Alkohol und angehende Akademiker schlucken mehr Psychopharmaka als andere Altersgenossen.
Im AStA der Universität Hamburg will man dies nicht bestätigen. "Aber da ist die Dunkelziffer sicher hoch, dies ist kein Thema, über das Studenten offen sprechen", sagt der Vorsitzende Torsten Hönisch. Er begrüßt die Umstellung auf Bachelor und Master, mit der die internationale Vergleichbarkeit erhöht und Studenten zu schnelleren Abschlüssen geführt werden sollen.
Drei Klausuren in fünf Tagen seien aber keine Seltenheit mehr und setzen besonders Studienanfänger unter Druck, berichtet ein Kollege im AStA. Bis zu 70 Prozent der Hamburger Studenten müssen zudem neben dem Studium noch arbeiten.
Mit dem Leistungsdruck steigt die Burn-out-Gefahr
Alkohol, Aufputschmittel, Tabletten und in immer häufigerer Intensität Cannabis dienen als Ventil gegen Leistungsdruck, Übermüdung und Versagensängste, wie der Leiter der Psychosozialen Beratungsstelle von Universität und Studentenwerk Oldenburg, Wilfried Schumann, festgestellt hat. Immer mehr Studenten litten unter dem "Burn-out-Syndrom". "In den letzten Jahren wurden an den Unis die Schrauben angezogen." Seit 20 Jahren arbeitet Schumann in dem Bereich, derzeit beobachtet er eine "Renaissance des Alkohols".
"Viele denken: Ich muss schnell mit dem Studium fertig werden, sonst habe ich beruflich keine Chancen", erklärt Schumann. Rauschmittel dienten als Kompensation des Drucks. "Saufgelage", wie sie unter US-Studenten beliebt sind, würden immer häufiger auch unter deutschen Studenten gefeiert. Die "Süddeutsche Zeitung" sprach deshalb jüngst vom "Studienfach Schnaps".
Eine Befragung des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim und der Universität Münster von 1130 Studenten brachte das Ergebnis, dass fast jeder Dritte zu viel Schnaps, Bier und Wein trinkt. Studenten vernachlässigten nach Trinkgelagen oft ihre Arbeit oder das Lernen in der Uni. Zum Teil gingen sie betrunken oder verkatert zur Arbeit oder in die Vorlesungen. Professor Josef Bailer vom ZI in Mannheim kritisiert, dass es an Programmen für Alkoholabhängige an Unis mangele.
Apotheken-Umsatz nimmt in der Klausuren-Zeit zu
Außer dem Alkoholmissbrauch scheint sich der zunehmende Tablettenkonsum zu einem ernsten Problem zu entwickeln. Apotheken im Umfeld von Universitäten berichten in Prüfungs- und Klausurenphasen von einem erhöhten Absatz von Aufputschmitteln wie etwa Koffeintabletten. Und eine Studie der Techniker Krankenkasse (TK) unter 130 000 Studenten im Alter von 20 bis 34 Jahren Anfang Januar zeigte, dass bundesweit für 52 Tage Medikamente an angehende Akademiker verordnet wurden, in Schleswig-Holstein sogar für 60 Tage.
Zehn Prozent der verordneten Medikamente waren Psychopharmaka. "Wir waren von dieser Arzneimittel-Auswertung selbst überrascht", sagt TK-Sprecherin Michaela Speldrich. Bei den gesundheitlichen Belastungen spiele der erhöhte Druck durch die Umstellung auf Bachelor-Studiengänge wohl eine große Rolle. Besonders höhere Semester schlucken Pillen. "Wir vermuten, dass der Druck seitens der Arbeitswelt und den Eltern, aber auch der finanzielle Druck mit zunehmendem Alter im Studium steigt", sagt Speldrich.
16 Prozent der Befragten gaben an, oft Depressionen zu haben. Die 34 Jahre alte Speldrich betont, dass viele Faktoren für die Befunde ursächlich seien. "Das gesundheitliche Befinden hängt auch stark vom Lernumfeld ab." So soll es an der Universität Bochum, einem Betonkomplex aus den 1960er Jahren, die höchste Suizidrate unter Studierenden geben.