Ein Konzept gegen Gewalt in der Familie

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Gewalt in der Familie: Ausgangspunkt für einen bemerkenswerten therapeutischen Ansatz.

Gewalt in der Familie: Ausgangspunkt für einen bemerkenswerten therapeutischen Ansatz.

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HEIDELBERG (bd). Problemfamilien werden zu Experten ihrer Probleme und therapieren sich gegenseitig. Dieses Prinzip steckt hinter der Multifamilientherapie, wie sie in den USA und Großbritannien seit mehr als 20 Jahren erfolgreich praktiziert wird.

Über das Erfolgsmodell berichtete der Kinder- und Jugendpsychiater Eia Asen aus London bei einer Tagung des Instituts für Medizinische Psychologie des Uniklinikums Heidelberg, der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie und Familientherapie (DGSF) und der "Systemischen Gesellschaft"(SG) in Heidelberg. Effektiv sei diese systemische Methode bei Familien mit Gewalt- und Suchtproblemen, bei Kindesmisshandlung, Ess-Störungen, Psychosen oder auch chronischen körperlichen Erkrankungen wie etwa jugendlicher Diabetes.

Bis zu acht Familien arbeiten mit zwei Therapeuten

Das Prinzip: Vier bis acht Familien arbeiten mit zwei Familientherapeuten, die im Laufe der Therapie immer mehr in den Hintergrund treten, über zwölf Wochen an einem Problem, das alle verbindet, wie zum Beispiel Gewalt in der Familie. "Mit der Moderation der Therapeuten, aber vor allem durch gegenseitige Beobachtung, Rückmeldungen, Ermutigungen und Vorschläge therapieren sich die Familien schließlich quasi gegenseitig", so Asen bei der Heidelberger Tagung.

Der therapeutische Effekt im Vergleich zu einer "Einfamilientherapie" werde dadurch verstärkt, dass die Beteiligten aus ihrer sozialen Isolation herauskämen, am Modell der anderen lernen könnten und zunehmend Vertrauen in die eigenen Selbstheilungskräfte bekämen. Die Familientherapeuten treten mehr und mehr in den Hintergrund.

Während der Therapiezeit werde auch gemeinsam gekocht und gegessen und Theaterspiele oder Ausflüge organisiert. Dadurch entstehe ein soziales Netz für die bislang isolierten Familien. Die Therapie findet über mehrere Tage pro Woche im Marlborough Family Center statt, einer Multi-Familien-Tagesklinik in London, in der Problemfamilien der unterschiedlichsten Nationalitäten betreut werden. Wichtig sei es, dass die gesamte Familie in die Therapie einbezogen werde.

Ebenso erfolgreich ist ein Schulprojekt an dem Londoner Zentrum, an welches hochauffällige Schüler - meist notorische "Schulschwänzer" - und deren Familien in der Regel vom Schulamt verwiesen werden.

Eltern arbeiten als Lernassistenten

In der Familienschule erhalten die Kinder durch Lehrer ihre Ausbildung und Erziehung zugleich. Die Eltern fungieren als Lernassistenten im Hintergrund und erleben "in vivo", wie sich ihre Sprösslinge in der Schule tatsächlich verhalten. Sie sehen ihre Probleme durch andere Eltern gespiegelt. In 95 Prozent der Fälle gelinge es so, die Schüler wieder ins normale Schulleben zu integrieren, so Asen. Ein weiterer erfolgreicher Ansatz sind Familienklassenzimmer an den Schulen oder in Kindertagesstätten für auffällige Schüler an den jeweiligen Einrichtungen.

Dort arbeiten "Familienarbeiter" mit familientherapeutischer Kompetenz, Lehrer und eine "gestandene Mutter oder Vater" zusammen mit dem Ziel, die Problemkinder wieder in ihre Ursprungsklassen zu integrieren. Entsprechende Modelle werden in nordischen Ländern und der Schweiz umgesetzt, vereinzelt auch an deutschen Schulen wie in Karlsruhe und Schleswig. In Deutschland seien solche Modelle, deren Evidenz hinreichend belegt sei, bislang noch wenig realisiert worden, kommentierte Tagungsleiter und DGSF-Vorsitzender Professor Jochen Schweitzer aus Heidelberg. Das werde sich aber voraussichtlich ändern.

Systemische Interventionen

Die Systemische Theorie geht davon aus, dass sich einzelne Menschen und ihre sozialen Umwelten wie Familie, Schule und Arbeitsplatz in ihrem Verhalten gegenseitig beeinflussen. Systemische Interventionen und Therapien werden im Gesundheitswesen vor allem in der Systemischen Familienpsychotherapie und Familienmedizin sowie in der Psychiatrie erfolgreich angewandt.

Auch in Schulen und Unternehmen werden systemische Ansätze zur Unterrichtsgestaltung oder im Führungskräftecoaching und der Teamarbeit eingesetzt.

Die Multisystemische Therapie (MST) wird in den USA sehr erfolgreich bei delinquenten Jugendlichen praktiziert. Es handelt sich dabei um eine "aufsuchende" Therapie, das heißt, die Therapeuten kommen in die Schulen oder betroffenen Familien und sie beziehen bei ihrer Arbeit die Schule, die Peergroups und Nachbarschaft in die Therapie mit ein.

Bei der Multifamilientherapie arbeiten mehrere Familien mit ähnlichen Problemen gemeinsam mit Therapeuten an der Lösung dieser Probleme.

Sie wird seit dem Jahr 1980 vor allem in den Vereinigten Staaten und Großbritannien mit sehr guten Ergebnissen angeboten. (bd)

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