Großunglücke

Vergangenheit, die nicht vergeht

Ramstein, Eschede, Duisburg: Was Experten als "Großschadenslagen" bezeichnen, lässt bei Opfern – aber auch Einsatzkräften – noch nach Jahren seelische Wunden zurück. In Kliniken und Behörden hat sich die Vorbereitung auf solche seltenen Großunglücke stark gewandelt.

Von Pete Smith Veröffentlicht:
"Wir bereiten uns akribisch vor": Der Unfallchirurg und Notfallmediziner Dr. Uwe Schweigkofler im Rettungshubschrauber.

"Wir bereiten uns akribisch vor": Der Unfallchirurg und Notfallmediziner Dr. Uwe Schweigkofler im Rettungshubschrauber.

© BG Unfallklinik Frankfurt/Main

28. August 1988: Bei einer Flugshow auf dem pfälzischen US-Stützpunkt Ramstein kollidieren drei Jets einer italienischen Kunstflugstaffel, von denen einer brennend in die Menge stürzt. 70 Menschen sterben bei dem Inferno, mehr als 1000 werden zum Teil schwer verletzt, viele weitere durch das unmittelbare Erleben stark traumatisiert.

3. Juni 1998: 300 Passagiere befinden sich auf dem Weg von München nach Hamburg, als der ICE 884 "Wilhelm Conrad Röntgen" infolge eines defekten Rads kurz vor Eschede entgleist. Bei der schwersten Zugkatastrophe in der Geschichte der Bundesrepublik kommen 101 Menschen ums Leben, 105 Passagiere tragen teils schwere Verletzungen davon.

24. Juli 2010: Bei der Loveparade in Duisburg, einer Tanzveranstaltung mit Hunderttausenden vorwiegend jungen Teilnehmern, kommt es zu einer Massenpanik, in deren Folge 21 Menschen sterben und 541 weitere teils schwer verletzt werden. Sechs Überlebende begehen später aufgrund andauernder seelischer Belastungen Suizid.

PTBS – vor 30 Jahren unbekannt

PTBS

  • Die Lebenszeitprävalenz einer posttraumatische Belastungsstörung liegt verschiedenen Studien zufolge zwischen ein und neun Prozent.
  • Frauen sind etwa doppelt so häufig davon betroffen wie Männer, interpersonelle Traumata führen häufiger zu einer PTBS als Unfälle oder Naturkatastrophen.
  • Eine Meta-Analyse ermittelte als weitere Risikofaktoren eine belastende Kindheit, Missbrauchserfahrungen, eine psychiatrische Vorerkrankung, mangelnde soziale Unterstützung, einen geringen Intelligenzquotienten, eine geringe Bildung und einen niedrigen sozioökonomischen Status.
  • Epidemiologische Studien zeigen, dass bei PTBS eine hohe Komorbidität mit anderen psychischen Erkrankungen vorliegt, etwa mit Angststörungen, Depressionen, Sucht und Borderline-Störungen. PTBS-Patienten haben zudem ein höheres Suizid-Risiko. (smi)
  • Quelle: Meta-Analysis of Risk Factors for Posttraumatic Stress Disorder in Trauma-Exposed Adults

Ramstein, Eschede, Duisburg – drei Katastrophen, die sich in die jüngste deutsche Geschichte eingeschrieben haben. Viele Opfer leiden bis heute unter den Folgen der Unglücke, die meisten weniger an ihren körperlichen als an ihren seelischen Wunden. Für jene gibt es heute einen Begriff, den man vor 30 Jahren noch gar nicht kannte: posttraumatische Belastungsstörung (PTBS).

Psychoreaktive Auffälligkeiten entwickeln nach den Erfahrungen des Diplom-Psychologen und Psychotherapeuten Gordon Krahl, Mitarbeiter des Psychotraumatologischen Zentrums für Diagnostik und Therapie an der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Frankfurt am Main, überraschenderweise relativ wenige Opfer schwerer Verletzungen, allerdings habe man in den letzten Jahren festgestellt, dass die Einsatzkräfte, die sich nach Katastrophen um Opfer kümmern, längerfristig unter den psychischen Belastungen leiden können.

"Großschadenslagen gibt es bei uns zum Glück extrem selten", sagt der Unfallchirurg und Notfallmediziner Dr. Uwe Schweigkofler, stellvertretender Ärztlicher Direktor der Frankfurter BG Unfallklinik. "Dennoch bereiten wir uns akribisch auf alle denkbaren Szenarien vor."

Im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 im eigenen Land fanden sich Vertreter der Arbeitsgemeinschaft der Krankenhäuser monatlich zu einer Einsatzplanung zusammen, bei der es nicht zuletzt um sogenannte Großschadensereignisse ging.

2014 wurde die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Krankenhaus-Einsatzplanung (DAKEP) gegründet, die die Steuerung von Schadens- und Großschadenslagen in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Kurkliniken verbessern soll.

"Mit der geänderten Gefahrenlage durch den internationalen Terror gibt es überall und permanent Einsatztreffen und Notfallübungen, sodass wir mittlerweile über eine sehr gute Infrastruktur verfügen", sagt Schweigkofler. "Der Krankenhaus-Alarmplan umfasst 300 Seiten und widmet sich größtenteils dem sogenannten Massenanfall von Verletzten. Darin ist alles geregelt von der Identifizierung der Patienten und Angehörigen über die medizinische Versorgung der Opfer bis hin zur Versorgung der Einsatzkräfte mit Essen und der Betreuung von Kindern."

Nicht gut gerüstet?

Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) monierte unlängst, dass Deutschland nicht ausreichend auf Naturkatastrophen, Unglücke oder Terroranschläge vorbereitet sei. DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt, ehemalige Bundestagsabgeordnete der CSU, sieht vor allem die kurzfristige Unterbringung und zeitnahe Versorgung einer großen Zahl von Menschen als Problem.

Daher hätten DRK, Arbeiter Samariter Bund, Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft, Johanniter Unfallhilfe und Malteser Hilfsdienst im Auftrag des Bundes damit begonnen, über Deutschland verteilt zehn Materiallager mit Zelten, Feldbetten, Kleidung, Medikamenten und Lebensmitteln für insgesamt 50.000 Menschen zu errichten, erklärt Hasselfeldt. Deren Kosten werden auf mehr als 100 Millionen Euro geschätzt.

Ähnliche Depots sind nach Ende des Kalten Krieges aufgelöst worden. Tatsächlich wurde nach dem Fall des Eisernen Vorhangs der Zivilschutz, unter dem man im Verteidigungsfall alle nicht-militärischen Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung und zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Infrastruktur versteht, zurückgefahren. Angesichts der Terrorgefahr plädieren Experten zunehmend für die Zusammenlegung von Zivilschutz und Katastrophenschutz.

"Im Zuge der Vorbereitung auf künftige Katastrophen und Anschläge muss man alle Akteure ins Boot holen", sagt Uwe Schweigkofler. Neben den herkömmlichen Übungen mit Notdienst und Feuerwehr gebe es regelmäßig auch Übungen gemeinsam mit der Polizei, dem SEK und der Bundeswehr. Ein ständiger Austausch finde zudem auf internationaler Ebene statt. "Beispielsweise haben wir viel von unseren Kollegen in Israel gelernt, die sich mit Anschlagszenarien viel besser auskennen als wir."

"Wir sind gut aufgestellt"

Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 sind auch in Deutschland terroristische Szenarien in den Vordergrund gerückt. "Zum Beispiel Parallelattentate, bei denen die zweite Bombe erst gezündet wird, wenn die Helfer am Ort des ersten Einschlags eintreffen", so Schweigkofler.

Auch ein Angriff mit radioaktiven Sprengsätzen ("schmutzige Bombe"), biologischen oder chemischen Substanzen werde simuliert. "Bei uns im Haus haben wir ein Dekontaminationsteam, das im Notfall verseuchte Personen – vereinfacht gesagt – säubert." Ebenfalls würden Geiselnahmen in Schulen und Kliniken, Einsätze mit Schutzwesten und unter Feuer geübt.

"Wir sind gut aufgestellt", bilanziert der Notfallmediziner und Unfallchirurg. "Wir haben eine hervorragende Medizin, eine sehr gute Infrastruktur, ein sehr gutes Rettungswesen und investieren sehr viel Geld in die Vorbereitung auf alle denkbaren Gefahrensituationen. Und dennoch wird es immer auch Szenarien geben, die außerhalb unseres Erfahrungs- und Erwartungshorizonts liegen. Ehrlicherweise muss man sagen, dass wir bis heute auch Glück gehabt haben."

Lesen Sie dazu auch: Interview: "Mich überrascht es immer, wie resilient Menschen sind"

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