Blumige Sprache der Patienten will gelernt sein

Etwa 1200 türkische und türkischstämmige Ärzte und Zahnärzte arbeiten derzeit in Deutschland. Dr. Orhan Baykal ist einer von ihnen. Der niedergelassene Allgemeinarzt lebt seit über 40 Jahren in Süddeutschland. 70 Prozent seiner Patienten sind türkischer Herkunft und schätzen es, auch ein längeres Gespräch mit ihrem Arzt führen zu können.

Von Marion Lisson Veröffentlicht:
Dr. Orhan Baykal, Allgemeinmediziner in Schorndorf.

Dr. Orhan Baykal, Allgemeinmediziner in Schorndorf.

© Marion Lisson

SCHORNDORF. Vor fünf Jahren startete Dr. Orhan Baykal mit seiner Allgemeinarztpraxis in Schorndorf. Ob deutsch oder türkisch gesprochen wird - in Baykals Praxis darf jeder selbst entscheiden.

"Ich kann zwar besser deutsch als türkisch sprechen, doch meine Patienten sind dankbar, dass sie sich mit mir auch ohne Dolmetscher unterhalten können", berichtet der 44-jährige Mediziner lächelnd.

Baykal nimmt sich Zeit - intuitiv, auch wenn es der Terminkalender oftmals kaum erlaubt. Das offene und intensive Gespräch mit Patienten ist ihm ein wichtiges Anliegen, "hinter den Vorhang zu schauen" sein Ziel.

Baykal nimmt sich Zeit für seine Patienten

Immerhin: 50 bis 60 Prozent der geschilderten Beschwerden in seiner Praxis sind mit einem psychosomatischen Hintergrund assoziiert, schätzt Baykal. Mit einer Sieben-Minuten-Medizin ist hier nichts zu machen. Psychosomatische Erkrankungen seien besonders bei türkischstämmigen Patienten häufig zu diagnostizieren.

"Für viele Migranten und ihre Kinder bleiben die Probleme nicht aus: Ehe- und intrafamiliäre Konflikte, Entfremdungs- und Entwurzelungsgefühle, sowie auch generationsübergreifende Dissonanzen zwischen den Alten und den Hiergeborenen sind oft Ursache für Störungen des psychosozialen Gleichgewichtes", fasst Baykal zusammen.

Er selbst kam mit drei Jahren nach Deutschland. Der Mediziner bezeichnet seine Übersiedlung als "klassische Migrantengeschichte". Der Vater arbeitete damals bereits als Gastarbeiter in Baden-Württemberg, bevor Baykals Mutter mit den Kindern nachkam.

Zuhören und Nachfragen bei Familienproblemen

Baykal sitzt im Behandlungszimmer. Er befragt eine etwa 70-jährige Frau mit dunklem Kopftuch. Mit ihren Händen hält sie die Bügel einer schweren Handtasche auf ihren Knien umfasst.

Sie habe Kopfschmerzen und fühle sich schlapp, erzählt sie gerade. Beide sprechen türkisch miteinander. "Sie kommen mir heute sehr nachdenklich vor", sagt Baykal und schaut sie freundlich abwartend an.

Die Frau nickt, atmet tief ein und beginnt plötzlich von ihren Sorgen zu erzählen. Sie schlafe sehr schlecht, gibt sie zu. Ihrer älteren Schwester in Istanbul geht es nicht gut. Die Familie sorgt sich. Sie wisse nicht, ob sie in die Türkei fahren solle, um sich um die Schwester zu kümmern, vertraut sie ihrem Hausarzt an. Baykal hört zu, fragt nach.

Türkische Patienten - Herausforderung für manchen Hausarzt

Türkische Patienten stellen für so manchen Hausarzt eine Herausforderung dar. Baykal erinnert sich an seine Anfangsjahre in der Klinik: "In der Ambulanz waren mir türkische Patienten manchmal ein Graus", sagt er lachend.

Oft sei er als türkischstämmiger Arzt von den Kollegen gebeten worden, die Behandlung seiner Landsleute zu übernehmen. Die blumigen Schilderungen der Patienten habe ihn anfangs völlig irritiert. Umschreibungen wie: "Ich habe so ein loderndes Feuer in mir", verunsicherten den jungen Assistenzarzt damals.

Aus den Lehrbüchern kennt er dies nicht. Doch lernt er schnell: Nur geduldiges Nachfragen hilft. Kaum ein Patient - dies gilt auch für Deutsche - beschreibt nun einmal seinen Oberbauchschmerz exakt als stechend oder wellenförmig.

Türken sind die größte ehtnische Minorität in Deutschland

Mit fast zwei Millionen Immigranten bilden die Türken die größte ethnische Minorität in Deutschland. In Berlin und Hamburg zum Beispiel hat jeweils rund ein Viertel der Bevölkerung einen Migrationshintergrund, die meisten Einwandererfamilien stammen aus der Türkei.

Jedoch gibt es bislang kaum medizinstatistische Daten über den seelischen Gesundheitszustand von Migrantinnen und Migranten und ihre Inanspruchnahme von Hilfsangeboten. Bekannt sind bisher nur einzelne Informationen, zum Beispiel, dass die Suizidrate bei jungen türkischen Frauen etwa doppelt so hoch ist wie bei Gleichaltrigen ohne Migrationsgeschichte.

Depressionen weit verbreitet

Ein internationales Forschungsteam mit Wissenschaftlern des Instituts für medizinische Psychologie des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf und der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité befasst sich derzeit gemeinsam mit Wissenschaftlern der Marmara Universität Istanbul mit der seelischen Gesundheit bei Menschen mit Migrationshintergrund.

Das auf drei Jahre angelegte Projekt "segemi" wird von der Volkswagen-Stiftung finanziell gefördert.

"Ich beobachte bei meinen Patienten immer wieder Depressionen, wenn mit der Auswanderung verbundene Hoffnungen sich als uneinlösbar erweisen und obendrein ein Rechtfertigungsdruck entsteht, dass die Emigration trotzdem die richtige Entscheidung war", erklärt Baykal.

Das bestätigen auch andere Ärzte: Einmal im Quartal trifft der Allgemeinarzt sich mit türkischstämmigen Kollegen beim Stammtisch. Freundschaften werden hier gepflegt, Erfahrungen ausgetauscht und gesundheitspolitische Themen diskutiert.

Vorsorgeangebote werden gerne angenommen

Grundsätzlich sei die Therapietreue bei Türken insgesamt zufriedenstellend, stellt Baykal fest. Besonders positiv herauszuheben seien Vorsorgeangebote, die nicht nur sehr gerne in Anspruch genommen werden, sondern oft aktiv von den Patienten selbst erfragt werden.

Er bedauert es grundsätzlich, dass ein gutes Gespräch zwischen Patient und Arzt im Abrechnungssystem eines Hausarztes jedoch nicht ausreichend gewürdigt wird. "Denn natürlich muss ich als selbstständiger Arzt auch an die Wirtschaftlichkeit der Praxis denken", fasst er zusammen.

Dennoch: Baykal hält allen Abrechnungsmöglichkeiten zum Trotz an seiner Gesprächstherapie fest: "Die Empathie ist der Schlüssel zu meinen Patienten", sagt Baykal.

Gerade hat er sich von der älteren Dame mit den Schlafproblemen nach einem 20-Minuten-Gespräch verabschiedet.

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