Betriebsärzte werden zu Gesundheitscoaches

Psychische Störungen werden immer häufiger diagnostiziert und sie verursachen lange Fehlzeiten. Arbeitgeber und Betriebsärzte wollen das Problem gemeinsam angehen.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
Dauer-Überlastung kann Folgen für die Psyche haben.

Dauer-Überlastung kann Folgen für die Psyche haben.

© Peter Atkins / fotolia.com

SALZGITTER. Immer mehr psychisch Erkrankte in den Betrieben - jetzt sollen Betriebsärzte ihre Patienten coachen.

Alexander Gunkel von der Hauptgeschäftsführung der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) und Dr. Wolfgang Panter, Präsident des Verbandes Deutscher Betriebs- und Werksärzte (VDBW), haben deshalb vor wenigen Tagen in Salzgitter eine gemeinsame Erklärung zur psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz unterschrieben.

Darin haben sie den Betriebsärzten eine Schlüsselstellung zugewiesen, und zwar als neutrale Berater und Lotsen beim betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM).

"Arbeitgeber und Betriebsärzte sind sich der Bedeutung des Themas Psychische Gesundheit im Betrieb bewusst", heißt es in der Erklärung. "Die Gefährdungsbeurteilung ,Psychische Belastung‘ sollte in ein funktionierendes Arbeitsschutzmanagement (…) integriert sein.

Der Betriebsarzt muss eine zentrale Rolle als neutraler Berater und Lotse beim betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) einnehmen. Arbeitgeber und Betriebsärzte sehen gemeinsamen Handlungsbedarf."

Die Betriebsärzte würden immer wichtiger, "in den Betrieben zum Thema Psyche kompetent zu informieren, bei betrieblichen Analysen und Lösungen mitzuwirken, Risiken zu erkennen, (…) und das Thema insgesamt zu enttabuisieren." Die Ärzte sollen betroffene Mitarbeiter dabei individuell beraten und coachen, um sie wieder in den Arbeitsprozess einzugliedern.

"Schnelle Lösungen gibt es nicht"

Allerdings warnt Professor Frank Jacobi vom Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der TU Dresden in einem Interview des VDBW vor einer reinen "Verhaltensprävention". Ein einfaches Kommunikationstraining für Mitarbeiter etwa genüge nicht.

"Auch die Verhältnisprävention, wie strukturelle Maßnahmen zur Vermeidung von arbeitsbedingten psychischen Risiken, muss im Blick gehalten werden", sagt Jacobi. Wichtig sei: "Die schnelle Lösung gibt es hier nicht!"

In der Tat fallen viele Mitarbeiter wegen seelischer Probleme aus. Im Jahr 2010 habe die Deutsche Rentenversicherung Bund rund 71.000 Erwerbsminderungsrenten wegen psychischer Erkrankungen bewilligt, so der BDA. 1995 waren es noch 55.000.

Die wachsenden Fallzahlen und das sinkende Lebensalter bei Eintritt in diese Rentenform belasten Volkswirtschaft und Sozialsysteme. Oft ahnt man in den Betrieben nichts von den seelischen Problemen der Mitarbeiter. Nur 16 Prozent der berufstätigen Patienten informieren ihren Vorgesetzten über ihre psychischen Leiden, zitiert der BDA eine Studie der TU München.

Die Statistiken der Krankenkassen zeigten zudem, "dass psychische Erkrankungen im Durchschnitt eine sehr lange Falldauer haben, die in der gleichen Größenordnung wie bei tumorbedingten Erkrankungen liegt", so der VDBW. Aber nicht nur abwesende Mitarbeiter kosten Geld, sondern auch die psychisch belasteten anwesenden Mitarbeiter, deren Engagement oft in der "inneren Kündigung" ende.

Größeres Wissen macht die Diagnose leichter

Jacobi warnt aber vor Kurzschlüssen: "Die epidemiologische Datenlage lässt nicht zu, von einem alarmierenden Anstieg der psychischen Störungen zu sprechen."

Die Kassen-Statistiken zeigten nicht eine höhere allgemeine Prävalenz psychischer Störungen, sondern der Erkenntnisstand zu psychischen Störungen sei besser geworden. Dennoch: "Wegen der enormen Größenordnung psychischer Störungen und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Kosten ist auch ohne eine Zunahme Handlungsbedarf gegeben", resümiert Jacobi.

Indessen fehlt der Betriebsmedizin offenbar noch das nötige Know- How, um den neuen Anforderungen gewachsen zu sein. "Der Betriebsarzt braucht spezielle Kompetenzen und Fertigkeiten, die über das klassische Curriculum der arbeitsmedizinischen Facharztausbildung hinausgehen", so der VDBW.

Darum setzt der Verband auf die strukturierte Fort- und Weiterbildung der Kollegen in psychosomatischer Grundversorgung oder mit dem Ziel des Zusatztitels Psychotherapie - "sofern die spezifischen Bedarfe der Arbeitsmedizin in die Ausbildung integriert werden".

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