"Wir verplempern unsere Fachkräfte"

Schlittert das Gesundheitswesen stärker als andere Branchen auf einen Fachkräftemangel zu? Experten aus der Branche sagen ja. Dabei gibt es durchaus Ideen, wie sich der drohende Personalengpass noch abwenden ließe.

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Nur der Ruf nach mehr Personal wird das Gesundheitswesen nicht retten, sagen Branchenexperten. Man müsse mehr auf Technik setzen.

Nur der Ruf nach mehr Personal wird das Gesundheitswesen nicht retten, sagen Branchenexperten. Man müsse mehr auf Technik setzen.

© Nerlich Images/fotolia.com

ROSTOCK (di). Die deutsche Wirtschaft sucht Fachkräfte. Im Gesundheitswesen wird sich der Personalbedarf wegen des steigenden Anteils älterer Menschen noch stärker entwickeln als in anderen Branchen.

Die Branche ist nach Ansicht von Experten aber nicht vorbereitet auf den Wettbewerb um qualifiziertes Personal.

Professor Heinz Lohmann sprach bei der achten Nationalen Branchenkonferenz Klartext: "Wir verplempern und wir frustrieren wertvolle Arbeitskräfte."

Gemünzt war die Kritik des Hamburger Managers und Beraters auf die Arbeitgeber im Gesundheitswesen, die nach Beobachtung Lohmanns zwar das Problem fehlender Fachkräfte erkannt haben, aber bislang nur mangelhaft an Lösungen arbeiten.

So gibt es inzwischen zwar jede Menge Kampagnen zur Fachkräftegewinnung und dazu, junge Menschen davon zu überzeugen, dass eine Ausbildung im Gesundheitswesen gute Perspektiven bietet - doch den Ruf nach mehr Personal allein hält Lohmann für unzureichend. Sinnvoller sei es, die Arbeitsbedingungen im deutschen Gesundheitswesen zu ändern.

"In unserer Branche wird fast alles noch von Hand gemacht. Wir müssen uns dringend um eine höhere Produktivität bemühen", appellierte Lohmann an die rund 600 Branchenvertreter in Rostock.

Vergleich mit dem Baugewerbe

Wohlwissend, dass er damit eine unpopuläre Botschaft verkündete und manche romantische Vorstellung von der Arbeit als fürsorgliche Pflegekraft an der Seite des Patienten zerstörte: "Das erzeugt Widerstände, weil es gegen unsere Kultur ist."

Auch Dr. Josef Hilbert, Leiter des Forschungsschwerpunktes Gesundheitswirtschaft des Instituts für Arbeit und Technik an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen, vermisst Bemühungen um eine Arbeitsplatzgestaltung, die dem Personal eine bessere Produktivität erlaubt.

Er zog einen auf den ersten Blick gewagten Vergleich mit der Situation im deutschen Baugewerbe in den 1970er Jahren. Die sei damals in ein Tief geraten, weil sie jahrelang Innovationen ignoriert und ausschließlich auf viele und billige Arbeitskräfte gesetzt habe.

Erst unter massivem wirtschaftlichen Druck hatte die Branche auf moderne Technik gesetzt, die es dem Personal erlaubte, produktiver zu arbeiten - in der Folge erlebte die Branche einen Aufschwung.

Analog dazu forderte Hilbert ein Gestaltungsprogramm für die Arbeitsplätze in Gesundheit und Pflege. Ob sich aber die Vertreter von Arbeitnehmern und Arbeitgebern darauf einigen können, erscheint auch Hilbert fraglich.

Arbeitgeber gefragt

Besonders in der ambulanten Pflege ist er angesichts eines Flickenteppichs von Tarifverträgen skeptisch.

Mecklenburg-Vorpommerns Sozialministerin Manuela Schwesig (SPD) hält moderne Technik und bessere Arbeitsplatzgestaltung dagegen nicht für prioritär: "Der beste medizinische Fortschritt kann nicht die Menschen ersetzen, die uns versorgen."

Für sie steht fest, dass die Arbeitgeber im Gesundheitswesen gefragt sind, sich um qualifizierten Nachwuchs zu kümmern und zugleich älteren Arbeitnehmern die Arbeitsplatzbedingungen zu bieten, die ihnen ein langes Beschäftigungsverhältnis erlauben.

Um Personal zu gewinnen, stellte sie unter anderem folgende Thesen auf: Ausbildung und Qualifizierungsangebote im eigenen Land sind die beste Quelle für den Nachwuchs an Fachkräften. Ziel müsse eine höhere Heimatbindung sein.

Als Beispiel führte sie die beiden Lehrstühle für Allgemeinmedizin in ihrem Bundesland an. "Man spürt, wie das Interesse der Studenten an der Hausarzttätigkeit wächst", sagte Schwesig.

Angemessen Gehälter

Es brauche alternative Zulassungsbedingungen für den Zugang zum Medizinstudium. Neben der Abiturnote sollte hierbei auch die Bereitschaft zur Patientenversorgung und Niederlassung eine Rolle spielen.

Aktivitäten, mit denen Menschen außerhalb des eigenen Bundeslandes für eine Tätigkeit in der Region gewonnen werden. Dafür sei aber auch eine entsprechende Willkommenskultur erforderlich, mahnte die Ministerin.

Und es müssten durch angemessene Arbeits- und Lebensbedingungen Perspektiven eröffnet werden: Dazu gehört für Schwesig nicht nur, aber auch ein angemessenes Gehalt.

Das Geld aber ist in vielen Bereichen des Gesundheitswesens noch ein Faktor, der zur Abwanderung aus Mecklenburg-Vorpommern führt. Nach Ansicht Schwesigs dürfen die Arbeitgeber in ihrem Bundesland die Gehälter nicht an Polen, sondern müssen sich an Hamburg und Lübeck orientieren.

Eine Intensivpflegekraft, die in einem Hamburger Krankenhaus 1000 Euro monatlich mehr verdienen könne als in Mecklenburg, sei in der Region nicht zu halten, warnte Schwesig.

Nicht zu vernachlässigen sind bei all diesen Forderungen aus Sicht Schwesigs Bemühungen um neue Berufe, die junge Leute ansprechen und damit in das Gesundheitswesen ziehen.

Als Beispiel nannte sie die vor einiger Zeit im Nordosten aus der Taufe gehobene Qualifizierung zum Profi-Wellness-Trainer.

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