Im Gespräch

Was hat die frühe Nutzenbewertung mit Ethik zu tun? Eigentlich gar nichts

Den Start der frühen Nutzenbewertung nimmt der Nationale Ethikrat zum Anlass, eine Rationierungsdebatte zu fordern. Doch die gestern veröffentlichte Expertise wirkt teils irrelevant und in ihrer kategorischen Ablehnung des Utilitarismus realitätsfern und apolitisch.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:
Was hat die frühe Nutzenbewertung mit Ethik zu tun? Eigentlich gar nichts

© [M] Waage: INSADCO / imago | Medikament, Geld: ill

Die frühe Nutzenbewertung verfolgt vor allem ein Ziel: möglichst rasch nach der Markteinführung einer Innovation - vorläufig - festzustellen, ob und in welchem Ausmaß ein patientenrelevanter Zusatznutzen im Vergleich zum Standard besteht und auf dieser Basis einen Erstattungsbetrag zu finden.

Dass dieser in vielen Fällen unter dem Einführungspreis liegt, versteht sich von selbst. Die logische Folge ist, dass neue Arzneimittel in Deutschland künftig besser für Patienten zugänglich sind, weil sie wahrscheinlich billiger werden.

Der Ethikrat arbeitet sich am falschen Objekt ab

Folglich kann die frühe Nutzenbewertung das Problem der Rationierung entschärfen. Umso mehr verwundert, dass der Nationale Ethikrat die Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln zum Anlass genommen hat, erneut eine Rationierungsdebatte für Deutschland anzustoßen.<(p>

Zumal der Rat in seiner am Donnerstag vorgelegten Stellungnahme "Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen - zur normativen Funktion ihrer Bewertung" selbst eingesteht, dass die Konzeption nach dem AMNOG lediglich Modalitäten für die Festsetzung eines Erstattungsbetrages betrifft.

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Die Kernaussage des Gremiums aus Juristen, Theologen und Medizinethikern ist daher: "Die Auswirkungen der aktuellen Vorgaben zur Kosten-Nutzen-Bewertung in Deutschland sind zur Zeit wegen des formell unveränderten Anspruchs der Versicherten auf Versorgung mit allem medizinisch Notwendigen im Wesentlichen unschädlich.

Sie dienen derzeit nicht als Instrument zur Verteilung knapper Ressourcen, sondern zur Preisfestsetzung."

Das hätte man auch kürzer haben können als auf den insgesamt 77 nicht eben leicht lesbaren Seiten der Stellungnahme. Zumal sich der Ethikrat am falschen Objekt abarbeitet, wenn es denn darum gehen soll, für Deutschland eine Rationierungsdebatte zu entfachen.

Selbst wenn man zugesteht, dass Patienten nicht in jedem Fall die optimale Arzneimitteltherapie erhalten (auf die allerdings auch gesetzlich kein Anspruch besteht) - die realen Versorgungslücken sind woanders zu suchen: in der palliativmedizinischen Versorgung oder in der Versorgung vulnerabler Bevölkerungsgruppen.

Menschenwürde, Gleichheit und Gerechtigkeit sind hier am stärksten tangiert, wobei das Verb "tangieren" noch als Euphemismus betrachtet werden darf.

Arzneimittel als industriell produzierte Güter haben hingegen von allen medizinischen Leistungen die prinzipiell beste Zugänglichkeit für alle.

Aber offenbar kommt es dem Ethikrat darauf auch gar nicht an. Sonst ließe sich nämlich nicht erklären, warum er sich weitläufig mit der Problematik des QALY-Konzepts (Konzept der qualitätsgewichteten gewonnen Lebensjahre) beschäftigt, das in Deutschland nicht relevant ist.

Ein rigoroses Minderheits-Votum

Das Prinzip der Menschenwürde erfordere einen durch Rechte gesicherten Zugang jedes Bürgers zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung, heißt es in den zusammenfassenden Empfehlungen.

Diese Rechte dürften nicht hinter etwaige Erwägungen zur Steigerung des kollektiven Nutzens zurückgestellt werden. Auch dürfe der errechnete oder vermutete sozio-ökonomische "Wert" von Individuen oder Gruppen nicht Grundlage von Verteilungsentscheidungen sein.

Fazit: Aus ethischer und gerechtigkeitstheoretischer Sicht gebe es gewichtige Gründe, nicht das Prinzip einer patientengruppenübergreifenden Nutzenmaximierung zu verfolgen. Diese Auffassung wird vom Gemeinsamen Bundesausschuss und dort insbesondere von den Patientenvertretern geteilt.

Das ist jedoch für die Regensburger Philosophie-Professorin Weyma Lübbe nicht präzise genug. In ihrem Sondervotum kritisiert sie die "überwiegend referierend-wiederholende Darstellung"; das könne die "angestrebte diskursfördernde Wirkung" nicht leisten.

Gesellschaftliche Nützlichkeit und volkswirtschaftliche Produktivität seien zwar in unserer Gesellschaft keine grundsätzlich als moralwidrig geltende Gesichtspunkte.

Aber dann das apodiktische Urteil von Lübbe: Es gebe "Kontexte, in denen solche Kategorien keine Rolle spielen dürfen. Die Mittelverteilung im Gesundheitswesen scheint uns ein solcher Kontext zu sein."

In der Konsequenz heißt das: Bei der Wiederherstellung der Gesundheit hat die Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit keine Rolle zu spielen, weil dies einen ökonomischen Effekt produziert, der ältere Menschen im Ruhestand systematisch benachteiligt.

Oder das QALY-Konzept setzt alte Menschen im Vergleich zu Kindern schon deshalb in einen Nachteil, weil Kinder die weitaus größere Restlebenserwartung haben, ihre QALYs also naturgegeben größer ausfallen müssen.

Spätestens hier erweist sich die Utilitarismus-Kritik als moralischer Rigorismus, der Tabus erzeugt. Und ökonomische Realitäten verkennt: Denn die Rentner von heute leben von Produktivität der Erwerbsbevölkerung, und die Kinder von heute sind die Alterssicherung der künftigen Rentner.

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