Pädiater wollen Vorsorge-Revolution

Die Lebenswelt der Kinder hat sich stark verändert, das muss Eingang in die Vorsorge finden, fordern Pädiater. Jetzt sollen die Untersuchungen U 1 bis J 2 umgekrempelt werden. Konkrete Pläne liegen vor.

Raimund SchmidVon Raimund Schmid Veröffentlicht:
Eine Kinderärztin behandelt einen Jugendlichen. Für jede Vorsorge soll es nach den Wünschen der Pädiater künftig einen Fragebogen geben.

Eine Kinderärztin behandelt einen Jugendlichen. Für jede Vorsorge soll es nach den Wünschen der Pädiater künftig einen Fragebogen geben.

© Tatjana Balzer/fotolia.com

BERLIN. Bei den Vorsorgeuntersuchungen für Kinder und Jugendliche bricht ein neues Zeitalter an. Dies zumindest glaubt der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ).

Er hat beim 42. Kinder- und Jugendärztetag 2012 in Berlin erstmals das neue "Erweiterte Vorsorgeheft für Kinder und Jugendliche" vorgestellt, das von der U1 bis zur J 2 reicht. Zwar sieht der BVKJ das neue grüne Heft, das das alte gelbe Vorsorgeheft ablöst, bislang lediglich als "Entwurf" an.

De facto sind aber die Inhalte dieses neuen Vorsorgeheftes auch ohne gesetzliche Verankerung in der Praxis längst Realität. Viele der neuen Vorsorgeuntersuchungen werden von den meisten großen Krankenkassen bereits über Selektivverträge finanziert und damit faktisch anerkannt.

Was ist nun aber neu im "Erweiterten Vorsorgeheft"? Jede Untersuchung ist in Schritte primärer, sekundärer und tertiärer Prävention unterteilt. Erheblich erweitert worden sind vor allem die Inhalte der Primärprävention.

So wird zum Beispiel bei der neuen U 11 im Alter von neun bis zehn Jahren im Rahmen der vorausschauenden Beratung gefragt, ob das Kind in einer rauchfreien Umgebung aufwächst, ob bereits Suchtmittel konsumiert werden, wie sich das Kind ernährt, wie viel es sich bewegt und wie lange die Medien im Alltag (TV, Internet und Spielkonsolen) genutzt werden.

Fragebogen für jede Vorsorge

Zudem spielen im neuen Vorsorgeheft die "Grenzsteine der Entwicklung" eine entscheidende Rolle. Sie geben an, welche Fähigkeiten ein Kind erreicht haben muss, um wie 90 Prozent aller gleichaltrigen Kinder einen altersgerechten Entwicklungsstand zu haben.

Und schließlich ist für jede Vorsorge ein Fragebogen entwickelt worden, mit dem vom Arzt Diagnosen und Verdachtsfälle erhärtet werden können.

Für die U 3 bis zur U 6 ist dies ein Elternfragebogen zu Regulations- und Bindungsstörungen. Für die U 8 und U 9 ein Eltern-Vorschulfragebogen und für die J 1 und J 2 ein spezieller Fragebogen für Jugendliche.

Ergänzt wird all dies durch ein ausführliches Manual und eine noch nicht ganz fertige EDV-Version, mit der dann die jährlich vorgenommenen sechs Millionen Kindervorsorgeuntersuchungen dokumentiert und ausgewertet werden sollen.

Da diese neuen Untersuchungen fast doppelt so viel Zeit in Anspruch nehmen (30 Minuten) wie die Vorsorgeuntersuchungen nach altem Muster, werden sie in den Selektivverträgen mit den Kassen in der Regel mit 50 Euro honoriert.

Für eine herkömmliche Vorsorge hat ein niedergelassener Arzt bisher rund 30 Euro erhalten, erläuterte Dr. Hermann Josef Kahl, Sprecher des Ausschusses Prävention und Frühtherapie der Kinder- und Jugendärzte.

Blockadehaltung der Politiker

BVKJ-Präsident Dr. Wolfram Hartmann kritisierte indes, dass sich die Politiker beim Thema neue Vorsorgeuntersuchungen immer noch "extrem bedeckt" hielten, obwohl sogar eine anerkannte wissenschaftliche Expertise vorliege, die eine gesetzliche Vorsorgeuntersuchung auch für das neunte Lebensjahr empfehle.

Diese Blockadehaltung der Politiker wird sich wohl auch so schnell nicht ändern, wenn man die Aussagen der parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium, Ulrike Flach (FDP), zum Maßstab nimmt.

Das BMG, so Flach, wolle weiter die Überarbeitung der Kindervorsorgeuntersuchungen durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) abwarten. Die wird aber noch längere Zeit in Anspruch nehmen.

Auch der Forderung des BVKJ, die Vorsorgeuntersuchungen für Kinder im Alter zwischen sechs und zehn Jahren gesetzlich zu verankern, will das BMG wohl zunächst nicht nachkommen. Hier gebe es zu viele Überschneidungen mit Schul-Untersuchungen.

Diese Begründung bringt Wolfram Hartmann auf die Palme. Flächendeckende Schuluntersuchungen fänden in Deutschland schon lange nicht mehr statt, da der Öffentliche Gesundheitsdienst Schritt für Schritt abgebaut werde.

Deshalb, so Hartmann, seien gerade die neuen Vorsorgeuntersuchungen im Schulalter "unverzichtbar" und rechtfertigten umso mehr das Vorpreschen der Pädiater mit dem neuen "Erweiterten Vorsorgeheft.

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Kassen in Erklärungsnot

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