Psychotherapie

"Zusammenarbeit? Da ist Luft nach oben"

Für Psychotherapeuten stehen bedeutende Änderungen ins Haus. Im Interview mit der "Ärzte Zeitung" spricht der neue DGPPN-Präsident Professor Arno Deister über Erwartungen an die novellierte Richtlinie, worauf es beim Home Treatment ankommt – und wo es bei Kooperationen noch hakt.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:
Professor Arno Deister ist neuer Präsident der DGPPN.

Professor Arno Deister ist neuer Präsident der DGPPN.

© Claudia Burger

Ärzte Zeitung: Am 1. April tritt die Novelle der Psychotherapie-Richtlinie mit der kurzfristig anzusetzenden Sprechstunde in Kraft. Wie sind Ihre Erwartungen daran?

Prof. Arno Deister: Die Hürde in das ambulante Versorgungssystem wird tiefergelegt. Das ist richtig und gut. Ob die Richtlinie erfolgreich sein wird, lässt sich heute noch nicht beantworten. Sie wird in dem Maße erfolgreich sein, in dem sie es schafft, die Verbindung zwischen den unterschiedlichen Sektoren des Systems für den Patienten zu verbessern.

Prof. Arno Deister

Aktuelle Position: Deister, Jahrgang 1957, ist seit Jahresbeginn Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN)

Ausbildung: Studium der Humanmedizin in Aachen und Köln (1976 bis 1982); 1994 Habilitation

Werdegang: von 1990 bis 1996 zunächst als Oberarzt, später als Leitender Oberarzt am Uniklinikum Bonn tätig; seit 1996 Chefarzt des Zentrums für Psychosoziale Medizin des Klinikums Itzehoe; 2012 wurde Deister in den DGPPN-Vorstand gewählt

Das klingt nicht gerade euphorisch. Wird der Zugang zur Psychotherapie zu sehr erleichtert?

Nicht jeder Mensch, der zur Tür eines Psychotherapeuten hineinkommt, braucht ihn auch als Therapeuten. Wichtig ist, frühzeitig zu erkennen, wer benötigt Therapie und wer braucht etwas Anderes. Dann bekommt man die Möglichkeit, die vorhandenen Ressourcen gezielter einzusetzen. Man verhindert, dass Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen in der Versorgung nicht ausreichend berücksichtigt werden. Das passiert nämlich leicht. Die Ressourcen sind endlich, dessen muss man sich bewusst sein. Wenn die Richtlinie dazu beiträgt, die Auswahl von Patienten zu verbessern – in dem Sinne: Wer braucht wann welche Behandlung –, wenn das System durchlässiger und integrativer wird, dann ist sie gut.

Es wird Mitte des Jahres zu weiteren Veränderungen kommen. Mit dem PsychVVG kommt das Home Treatment. Kliniken sollen dann ambulante Aufgaben übernehmen. Das hat schon im Vorfeld zu Verstimmungen bei Niedergelassenen geführt...

In der DGPPN sind ja niedergelassene und stationär tätige Ärzte vertreten. Wir haben hier im Vorfeld viel diskutiert. Dabei ging es nicht so heftig zu, wie in den Medien dargestellt wurde.

Wird das Eindringen des stationären Sektors in die ambulante Versorgung an dieser Stelle stärker dramatisiert als an der Basis?

Was das PsychVVG ermöglicht – nämlich die sogenannte stationsäquivalente Behandlung –, ist richtig. Aber es kann nur ein Anfang sein. Das ist noch nicht das, was ich unter Home Treatment insgesamt verstehe. Die aufsuchende Behandlung zuhause bedeutet ja viel mehr.

Zum Beispiel?

An jeder Stelle des Versorgungssystems können Sie sich fragen: Was ich hier vornehme, könnte ich vielleicht auch beim Patienten zuhause machen. Wobei zuhause auch heißt: im sozialen Netzwerk des Patienten. Da können niedergelassene Ärzte behandeln oder die Klinik. Was das PsychVVG regelt, ist ausdrücklich nur ein Ausschnitt davon. Gesundheitsminister Gröhe hat deutlich gemacht, dass es zum Start nur um die Patienten geht, die eine Indikation für eine stationäre Behandlung haben, aber nicht in der Klinik behandelt werden wollen, können oder sollen.

Wir fangen damit an, stationsäquivalente Behandlung zu definieren und zu sagen, wie sie abgerechnet und dokumentiert werden kann. Das muss bis zum 30. Juni stehen. Parallel gehen wir aber auch in Gespräche mit allen anderen, auch den Niedergelassenen, und überlegen, was wir über die Vorgaben des PsychVVG hinaus noch anbieten können.

Man hat aber schon den Eindruck, als würden auf dem Rücken der Patienten Verteilungskämpfe ausgetragen...

Wir wollen ja gerade davon weg, dass der gesetzliche Rahmen uns in eine solche Auseinandersetzung drängt. Jeder niedergelassene Arzt, jedes Krankenhaus muss irgendwie an Geld kommen, das er für die Versorgung der Patienten benötigt. Und wenn das eher in Abgrenzung funktioniert, also in Verteilungskämpfen, dann gibt es ein Problem – ganz besonders für die Patienten. Wir würden uns daher Rahmenbedingungen wünschen, die die Zusammenarbeit ökonomisch stärker anreizen als Abgrenzung.

Viel Übung haben Psychotherapeuten mit der Zusammenarbeit nicht. Nur vier Prozent aller IV-Verträge betreffen die psychiatrische Versorgung.

Die IV ist so gestaltet, dass sie für Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen oft kein Erfolg werden konnte. Was wir eigentlich brauchen, sind Setting-übergreifende Versorgungsformen, also keine, die nur auf ein bestimmtes Krankheitsbild bei Patienten einer einzelnen Krankenkasse bezogen sind.

Können Sie das konkretisieren?

Also: Sie haben eine Region, dort gibt es Menschen mit psychischen Erkrankungen. Und wir wollen, dass wir diesen Menschen eine Versorgung bieten, bei der sie nicht ständig in ein neues Umfeld kommen. Statt von den Institutionen Praxis, Klinik und Reha her zu denken, sollte man den Patienten in den Mittelpunkt stellen und fragen, was er an einer bestimmten Stelle seines Krankheitsverlaufes benötigt, und so die Sektoren verbinden.

Also populationsorientierte Versorgung...

Ja, ich mache so etwas seit 15 Jahren und merke dabei ja auch, wie rigide die Versorgungsstrukturen sind. Wir brauchen Versorgungsformen, die die starren Grenzen zwischen Krankenhäusern und Niedergelassenen auflösen. Am besten wäre, wenn die Reha einbezogen wäre. In der Psychiatrie ist das ja oft die Wiedereingliederung.

Am 7. April ist Weltgesundheitstag. Ist sein Thema "Depression" gut gewählt?

Alles, was auf diese Krankheit aufmerksam macht, ist gut. Die Lebenszeitprävalenz in der Bevölkerung für alle depressiven Erkrankungen zusammen liegt bei 16-20 Prozent. Das ist eine der häufigsten Krankheiten überhaupt.

Es gibt mit dem DMP Depression eine Reaktion aus Politik und Gesundheitswesen auf die Häufigkeiten der Erkrankungen. Da kommt wieder die Zusammenarbeit ins Spiel. Wie würden Sie diese bei somatisch und psychologischen Ärzten einschätzen?

Da ist noch Luft nach oben. Ich will dabei nicht sagen, dass etwa Hausärzte zum Beispiel Depressionen nicht erkennen. Es ist aber grundsätzlich gut, immer die Depression mitzudenken, wenn man Patienten mit bestimmter Symptomatik sieht. Das ist nur die eine Form der Zusammenarbeit. Die zweite ist, eine Beziehungs-und Behandlungskonstanz im Behandlungsverlauf aufrecht zu erhalten. Also die Kooperation von ambulanten und stationär tätigen Ärzten, einschließlich der Tageskliniken und der aufsuchenden Versorgung. Die Leitlinie Depression ist übrigens eine Nationale Versorgungsleitlinie. Sie richtet sich an alle.

Warum sollten psychiatrisch und somatisch tätige Ärzte an dieser Stelle überhaupt zusammenarbeiten?

Das DMP ist wichtig. Wir haben uns sehr dafür eingesetzt, dass es kommt, auch gegen die Konkurrenz von wichtigen somatischen Erkrankungen. Die Depression ist ein Paradigma dafür, dass man Versorgung nicht in einzelne Teile auseinanderdividieren kann. Sie ist eine Erkrankung, die Psyche und Körper gleichermaßen betrifft. Es gibt Studien, dass das Risiko für Herzerkrankungen mit Depression ähnlich steigt wie bei Hypercholesterinämie oder Gefäßerkrankungen. Oft ist die Endstrecke die gleiche.

Vier Fünftel der Menschen in Deutschland schlafen schlecht. Knapp zehn Prozent leiden regelrecht unter Insomnie. Kommt das in den Praxen an?

Ja, das ist ein großes Thema, nicht nur in den Praxen der Psychiater und Nervenärzte, sondern auch bei den Haus- und Fachärzten. Die Patienten sprechen die Schlaflosigkeit oft nur am Rande an. Manchmal muss man sie gezielt danach fragen. Wenn sie dann darüber sprechen, merkt man, wie tief das eingreift.

Inwiefern?

Wenn es uns nicht gelingt, beim Patienten das Thema Schlaf in den Griff zu bekommen, dann laufen viele andere Therapien ins Leere, zum Beispiel bei der Depression. Die Schlafstörung ist bei der Depression eigentlich das einzige wirklich obligate Symptom. Es gibt paradoxerweise Depressionen, die kaum mit Deprimiertheit daherkommen, sondern zum Beispiel primär mit Schmerzen und Verspannungen. Es gibt aber wenige Depressionen, die den Schlaf völlig unangetastet lassen. Wenn jemand mit einer Schlafstörung kommt, muss man immer fragen, ob nicht auch etwas Depressives dahintersteckt.

Die Zahl der Betroffenen geht in die Millionen. Läuft aus der Sicht des Arztes etwas falsch in der Gesellschaft?

Es hat natürlich auch einen kulturellen Aspekt. Die schlaflose Gesellschaft, Menschen, die sich den Schlaf nicht mehr gönnen, die meinen, sie könnten sich den Schlaf nicht mehr leisten, sie müssten immer aktiv sein. Vielen Menschen ist nicht klar, wo ihre individuellen Grenzen liegen. Wir sind sehr darauf getrimmt zu funktionieren. Das macht unsere Gesellschaft aus.

Und was folgt daraus?

Die Fragen sind: Kümmere ich mich um mich selbst. Bin ich aufmerksam, wo ich Erholung brauche. Wir haben die Aufgabe zu vermitteln, dass wirklich keiner etwas davon hat, wenn Menschen sich aufgrund von tatsächlich oder scheinbar übertriebenen Anforderungen völlig verausgaben. Hier verbinden sich die gesellschaftlichen mit den medizinischen Aspekten.

Lesen Sie dazu auch: Psychotherapie-Honorare / KBV: "Versorgungsfeindliche Regelung"

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