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No deal-Brexit? Dieses Szenario lässt NHS-Angestellte schaudern

Je mehr Zeit in ergebnislosen Verhandlungen verrinnt, desto nervöser werden Beschäftigte vor allem im Gesundheitswesen. Ein Brexit ohne Vertrag mit der EU? Im NHS fürchtet man in diesem Fall ein Desaster.

Arndt StrieglerVon Arndt Striegler Veröffentlicht:
Bloggt für die "Ärzte Zeitung" aus London: Arndt Striegler.

Bloggt für die "Ärzte Zeitung" aus London: Arndt Striegler.

© privat

Die fünfte Verhandlungsrunde im Brexit-Poker zwischen Großbritannien und der EU ist ohne bemerkenswerte Ergebnisse zu Ende gegangen.

Eine weitere Woche verlorener Zeit, ein weiterer Schritt in Richtung einer ungewissen Zukunft für alle Beteiligten. Und als ob die britische Premierministerin Theresa May all dies schon hätte kommen gesehen, warnte sie gleich zu Beginn dieser Runde im britischen Unterhaus vor einem "no deal scenario". Man werde sich darauf vorbereiten, versicherte die Regierungschefin, die täglich angeschlagener und unsicherer wirkt.

Doch wie bereitet man sich auf etwas vor, von dem man nicht weiß, wie es aussieht? Weder hier in London noch in Brüssel oder Berlin kann irgendjemand sagen, was praktisch passieren würde, würden sich Großbritannien und die EU im März 2019 trennen, ohne sich auf die Abwickelung dieser Jahrhundert-Scheidung geeinigt zu haben.

40 Prozent sind nicht-britisch

Der Brexit-Blog der "Ärzte Zeitung"

» Seit über 20 Jahren berichtet Arndt Striegler für die „Ärzte Zeitung“ aus Großbritannien. Den Umbruch durch den Brexit spürt er am eigenen Leib – etwa als Patient im Gesundheitsdienst NHS.

» Die Versuchsanordnung ist einmalig: Ein von der Globalisierung geprägtes Gesundheitswesen soll renationalisiert werden. Das durchkreuzt Lebenspläne von Ärzten und Pflegekräften aus dem Ausland.

» Im Wochenrhythmus schildert Blogger Arndt Striegler, der seit 31 Jahren auf der Insel lebt, von nun an die politischen und kulturellen Folgen des Brexit.

» Lesen Sie dazu auch: Boris Johnsons Wundertüte

Nun werden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, vielleicht fragen, was all das mit dem Gesundheitswesen und damit der "Ärzte Zeitung" zu tun hat? Viel, wenn man in diesen Tagen in London und anderswo in Großbritannien mit Ärzten, Krankenschwestern und Klinikmanagern spricht. Sie alle hatten sich mehr erwartet von der jüngsten Verhandlungsrunde.

Denn ohne eine EU-Mitgliedschaft und damit den freien Personen- und Warenverkehr zwischen dem Kontinent und dem Inselreich, würden weder die britischen Kliniken noch die Hausarztpraxen des staatlichen Gesundheitsdienstes (National Health Service, NHS) funktionieren.

In meiner örtlichen Klinik in London zum Beispiel sind fast 40 Prozent der Beschäftigten nicht-britisch. Und in meiner Hausarztpraxis, die ich seit mehr als 20 Jahren regelmäßig aufsuche, würde weder der Empfang (portugiesisch) noch das Praxismanagement (polnisch) so gut funktionieren. Soll heißen: Das britische Gesundheitswesen braucht qualifizierte Arbeitskräfte aus der EU, nicht zuletzt auch qualifizierte Ärzte aus Deutschland.

Ein mir bekannter Londoner Klinikarzt brachte dies dieser Tage auf folgende Formel: "Wenn wir im März 2019 aus der EU ausscheiden, ohne eine großzügige Einwanderungsregel gefunden zu haben, dann kann die Hälfte aller Krankenhäuser in diesem Land dichtmachen." Nun mag dies vielleicht etwas zu pessimistisch sein zumal mir das Londoner Gesundheitsministerium erst kürzlich wieder versicherte, der Brexit werde die medizinische Versorgung im Königreich "verändern, aber nicht gefährden". Hmmm, ich bleibe skeptisch.

Klar ist, dass viele Ärzte, Krankenschwestern und -Pfleger, Praxispersonal und andere irgendwie mit der Gesundheit zusammenhängende Berufe langsam kalte Füße bekommen und sich scharenweise entweder gleich ganz verabschieden, oder sich zumindest einen Plan B in die Schublade legen für den Fall des von Theresa May zitierten No-Deal-Szenarios.

Das ist schlecht für die Arbeitsmoral und Produktivität und es kommt just zu einer Zeit, zu der das Londoner Gesundheitsministerium vor einem bevorstehenden Versorgungsengpass angesichts des kommenden Winters warnt. Das Letzte, was britische Kliniken und Praxen jetzt brauchen, sind Kündigungen von Mitarbeitern, denen das Leben in Großbritannien in unsicheren Zeiten zu heikel wird.

Krux mit britischen Beipackzetteln

Erst langsam wird die Vielfalt der Auswirkungen des Brexit auch auf die Gesundheitswirtschaft deutlich: Kürzlich trafen sich Vertreter der britischen Biotech-Industrie mit EU-Vertretern, um über einen bislang nur wenig beachteten Nebenaspekt des Brexit zu sprechen: Packungsbeilagen. Packungsbeilagen von einigen Arzneimitteln "Made in Great Britain", die nach Zypern, Malta und Irland exportiert werden, sind derzeit in englischer Sprache verfasst. Nach dem Ausscheiden aus der EU würden diese Beipackzettel ebenso wie viele andere im Königreich hergestellten und für den EU-Binnenmarkt bestimmten Arzneimittel nicht mehr rechtskonform sein.

Zeit ist kostbar – und wird knapper

Gerade kleine Länder wie Malta und Zypern fürchten nicht ganz grundlos, dass sich Hersteller zunächst auf große Märkte wie Deutschland und Frankreich konzentrieren werden, wenn es darum geht, den durch den Brexit verursachten Schlamassel zu sortieren. Einige Experten sagen, dies könnte zu Versorgungsengpässen in Ländern wie Irland, Malta oder Zypern führen.

Langer Rede, kurzer Sinn: Sowohl die Pharmaindustrie als auch alle im britischen Gesundheitswesen Tätigen wünschen sich dringend mehr Klarheit, wie man sich in der Downing Street die Zukunft außerhalb der EU vorstellt. Bleibt zu hoffen, dass bei der nächsten Verhandlungsrunde zwischen London und Brüssel endlich mehr heraus kommt. Denn Zeit ist in diesem Fall kostbar – und sie wird langsam knapp.

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