Arndt Striegler bloggt

Ein Land vereint in Uneinigkeit

Der Brexit entwickelt sich von der unendlichen zur unheimlichen Geschichte. Die Selbstblockade von Parlament und Regierung löst umso mehr Entsetzen aus, je deutlicher die Kollateralschäden werden, meint unser Londoner Blogger.

Arndt StrieglerVon Arndt Striegler Veröffentlicht:
50 Tage bis zum Horror-Szenario? Was genau nach dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU passiert, weiß niemand.

50 Tage bis zum Horror-Szenario? Was genau nach dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU passiert, weiß niemand.

© McPHOTO / C. Ohde / blickwinkel / picture alliance

Journalisten und andere Autoren nennen es mitunter „Writers block“, Schreibblockade. Man möchte oder muss einen Text schreiben, aber es fällt einem so gar nichts ein, was man schreiben könnte. Ähnlich scheint es derzeit der britischen Regierung, allen voran Premierministerin Theresa May zu gehen: Es geht einfach nicht voran mit dem kühnen (und idiotischen!) Plan, Ende März die EU zu verlassen. Eine Art „Writers block“ eben in der britischen Politik.

Die Verhandlungen mit der EU über ein Ausstiegsabkommen, in dem grob geregelt wird, wie die Scheidung des Königreichs vom Kontinent praktisch vonstatten geht, ist zwar ausgehandelt. Doch das britische Parlament will dem partout nicht zustimmen. Und so schickt das Unterhaus die Premierministerin in diverse europäische Hauptstädte in der vagen Hoffnung, doch noch einmal nachverhandeln zu können. Was von der EU strikt abgelehnt wird.

Damit ist der Brexit nicht länger nur eine unendliche Geschichte. Sondern mehr und mehr auch die unheimliche Geschichte, denn in weniger als 50 Tagen sind die Briten nach über 40 Jahren EU-Mitgliedschaft draußen. Und mit jedem Tag, der vergeht, ohne dass es eine Einigung gibt, wächst die Wahrscheinlichkeit für das ultimative Horror-Szenario – einen No Deal-Brexit.

Die verkaufte junge Generation

In britischen Arztpraxen und Krankenhäusern des staatlichen Gesundheitsdienstes (National Health Service, NHS) beobachtet man das politische Chaos entweder mit Kopfschütteln und Unverständnis. Oder man hört ärgerliche Kommentare wie diesen: „May verspielt gerade die Zukunft unseres Landes und die Zukunft einer ganzen jüngeren Generation“, wie ein mit mir befreundeter Londoner Klinikarzt kürzlich klagte. Der Mann hat eine 17-jährige Tochter, die gerne in Deutschland studieren würde, dies aber nun dank Brexit zumindest gut überdenken muss.

Vor wenigen Tagen warnte Glen Garrod von der Organisation mit dem etwas sperrigen Namen „Association of Directors of Adult Social Services (ADSS) vor einem Brexit-bedingten Pflegenotstand.

Laut ADSS riskiert Großbritannien nach dem EU-Austritt, dass Zehntausende meist ältere und bedürftige Patienten, die gegenwärtig ambulant versorgt werden, nicht länger verköstigt, gewaschen und versorgt werden können. Und zwar, weil neue Einwanderungsregeln nach dem Brexit vorsehen, dass nur noch solche qualifizierten Arbeitskräfte ins Land dürfen, die mindestens 30.000 Euro (rund 33.000 Euro) pro Jahr verdienen – was gerade im britischen Pflegesektor längst nicht immer der Fall ist.

Über 100.000 Pflegekräfte fehlen

Die ADSS fürchtet ein Szenario, wonach bereits in wenigen Monaten zwischen London und Liverpool der Pflegenotstand ausbrechen könnte. Denn schon heute fehlen dem Sektor laut ADSS landesweit mehr als 100.000 qualifizierte Pflegekräfte. Und seit dem EU-Referendum im Juni 2016 ist die Zahl der aus anderen EU-Ländern auf die Insel kommenden Pfleger deutlich gesunken.

Nach Angaben der Regierung arbeiten heute noch rund 104.000 Kräfte aus anderen EU-Staaten in britischen Sozialdiensten und in der Altenpflege. Viele wollen aber gehen. Krankenpflege-Organisationen warnen seit mehr als zwei Jahren vor ähnlichen Brexit-bedingten Personalengpässen.

Und beim jüngsten Besuch in meinem wohnortnahen NHS-Krankenhaus konnte ich mit eigenen Augen sehen, wie in diesem Winter der Brexit-Schock die Krankenversorgung behindert: Patienten, die stundenlang auf Notbetten auf den Fluren auf ein freies Bett oder eine Konsultation warten müssen. Lange Wartezeiten auf einen Termin bei einer Practice Nurse in meiner örtlichen Hausarztpraxis für einen Routine-Check.

Regierung fürchtet soziale Unruhe

Und je länger das Hin und Her weiter geht, desto schlechter dürfte für mich als Patient in Großbritannien die Krankenversorgung werden. Bittersüße Ironie: Jüngst wurde bekannt, dass der langjährige Chef des britischen für das Ausland zuständigen Geheimdienstes MI6, Alex Younger, nicht wie geplant zum Ende des Jahres in Rente gehen darf. Warum?

Die Regierung mag nicht ausschließen, dass es im Fall eines chaotischen Brexit zu Unruhen in Großbritannien kommen könnte. Es sind in der Tat merkwürdige Zeiten auf der Insel.

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