HINTERGRUND

Erst zwangssterilisiert, dann verhungert oder vergast

Von Klaus Brath Veröffentlicht:

Sie wurden stigmatisiert, zwangssterilisiert und schließlich vergessen: die etwa 350 000 Menschen, die von 1934 bis 1945 aufgrund des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses operativ unfruchtbar gemacht wurden. Das Gesetz prägte die nationalsozialistische Gesundheitspolitik. Es wurde heute vor 75 Jahren von der deutschen Reichsregierung in Berlin beschlossen.

Da ist zum Beispiel das Schicksal von Paul Wulf. Ein Anstaltsarzt attestierte ihm "angeborenen Schwachsinn ersten Grades." 1938, mit 16 Jahren, wurde Wulf zwangssterilisiert; das Erbgesundheitsgericht Arnsberg hatte ihn nach fünfminütiger Verhandlung dazu verurteilt.

1950 hob das Amtsgericht Hagen den Beschluss des Erbgesundheitsgerichtes wieder auf. Begründung: Wulf habe sich "offenbar spät entwickelt und die Entwicklung ist für ihn günstig verlaufen, so dass die Diagnose ‚angeborener Schwachsinn‘ nicht mehr aufrecht erhalten werden kann." Allerdings stellte das gleiche Gericht Wulf als Simulanten dar und lehnte seinen Schadensersatzanspruch ab.

Paul Wulfs Schicksal, seine unzureichende Rehabilitierung, ist typisch für die Opfer der NS-Zwangssterilisierung. Sie blieben unbeachtet: gesellschaftlich, politisch, juristisch, oft tabuisiert selbst in der eigenen Familie.

Ziel war ein "höheres Menschengeschlecht"

Die staatlich erzwungene Sterilisation war keine Erfindung der Nazis. Begünstigt durch naturwissenschaftlichen Aufschwung und Fortschrittsgläubigkeit suchte man zu Beginn des 20. Jahrhunderts international nach biologischen Lösungen für soziale Probleme. Namhafte Ärzte und Anthropologen glaubten, durch Eugenik der vermeintlichen gesellschaftlichen Degeneration gegensteuern und ein "höheres" Menschengeschlecht züchten zu können. In Skandinavien und den USA beschloss man entsprechende Sterilisationsgesetze.

Heute vor 75 Jahren beschlossen die Nazis ein Gesetz mit fatalen Folgen.

Doch das diktatorische NS-Regime instrumentalisierte die eugenischen Anliegen am radikalsten; seit 1939 sogar mit tödlicher Konsequenz. Die Radikalisierung bis hin zur "Euthanasie" von über 200 000 kranken und behinderten Menschen allein im Deutschen Reich erfolgte nicht nur legislativ (und schließlich durch Hitlers "Euthanasie"-Ermächtigung), sondern auch propagandistisch: In Wort und Bild, Ton und Film zeigte man selbstmitleidig, wie sehr die zu veredelnde "Herrenrasse" und der zu reinigende "Volkskörper" unter den "unnützen Essern" zu leiden habe. In Horrorszenarien malte man aus, wie Erbkranke, Alkoholiker und Idioten die "gesunden" Deutschen ausrotten würden.

Eine perfide Propagandamaschinerie

Noch vor dem Anlaufen der perfidesten Propagandamaschinerie, bereits 1932, hatte der Preußische Landesgesundheitsrat ein Sterilisationsgesetz vorbereitet, bei dem allerdings die Zustimmung der Betroffenen zur Bedingung gemacht worden war. Im Gegensatz dazu ermöglichte der nach der "Machtergreifung" vom ehrgeizigen NS-Medizinalreferenten Arthur Gütt konzipierte Entwurf Zwangssterilisationen. Das am 14. Juli 1933 verabschiedete Gesetz trat am 1. Januar 1934 in Kraft. Erbkrank im Sinne dieses Gesetzes war, wer an "angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, erblicher Fallsucht, erblichem Veitstanz, erblicher Taubheit und schwerer körperlicher Missbildung sowie schwerem Alkoholismus" litt.

An der praktischen Umsetzung des Gesetzes waren Ärzte maßgeblich beteiligt. Zwar entzogen sich vor allem niedergelassene Ärzte weitgehend der Anzeigepflicht, zwar verweigerten auch einzelne Amtsärzte wie etwa der Kölner Franz Vonessen jede Mitwirkung an den Zwangssterilisationen. Doch viele andere Ärzte stellten Anträge, lieferten Gutachten, agierten an den 181 Erbgesundheitsgerichten und im Operationssaal.

Und die zwangssterilisierten Opfer? Viele von ihnen waren von 1939 bis 1945 durch Gas oder Verhungernlassen ermordet worden. Und den Überlebenden verweigerten Nachkriegsjustiz und -gesellschaft lange Jahre eine angemessene Entschädigung und eine Gleichbehandlung mit anderen NS-Verfolgten.

Und heute? Erst am 24. Mai 2007 wurde das "NS-Zwangssterilisierungsgesetz", wie seit langem vom Bund der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten e.V. gefordert, vom Bundestag als Unrechtsgesetz geächtet. Die große Öffentlichkeit hat davon nichts mitbekommen.

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