Euthanasie-Gesetz mit vielen Fragezeichen

Zukunftsweisend und nachahmenswert: So würdigen Befürworter das seit 2001 geltende Euthanasie-Gesetz in den Niederlanden. Eigentlich soll es sterbenskranken Menschen die Chance geben, selbstbestimmt mit professioneller Hilfe von Ärzten aus dem Leben zu scheiden. Doch Gesetze allein reichen nicht aus.

Von Harm van Maanen Veröffentlicht:
Von Anfang an umstritten: die niederländische Euthanasie-Regelung.

Von Anfang an umstritten: die niederländische Euthanasie-Regelung.

© dpa

Nachbarn, die mit ihm Kontakt haben, erleben einen Mann, der zumindest von außen betrachtet keinen resignierten Eindruck macht. Er zeigt soziales Interesse, schaut begeistert Fußball und kümmert sich wie eh und je um seinen Garten.

Dann jedoch kommt die Überraschung. Meijer mag nicht mehr leben. Alle seine Nachbarn und Freunde informiert er, die meisten ungefragt. Der Sterbewunsch des Rentners wird zum öffentlichen Thema, er löst Irritationen und Ratlosigkeit aus.

Meijer geht in die Sprechstunde seines Hausarztes und erklärt ihm, dass er sterben will. Euthanasie heißt das Stichwort, sein Hausarzt soll ihm die tödliche Injektion setzen.

Die Rechtslage in den Niederlanden sieht so aus: Der Hausarzt muss zur Überzeugung gelangen, dass der Patient freiwillig und nach reiflicher Überlegung um Sterbehilfe bittet.

Die Kriterien nicht erfüllt

Er muss außerdem überzeugt sein, dass der Zustand des Patienten aussichtslos und sein Leiden unerträglich ist. Aber was bedeutet in diesem Zusammenhang "unerträgliches Leid"?

Leid wird vom Patienten subjektiv empfunden - doch nach welchen Kriterien beurteilt der Arzt, ob das Leiden tatsächlich "unerträglich" ist?

Meijers Hausarzt trifft seine Entscheidung nicht allein. Er muss laut Gesetz einen unabhängigen zweiten Arzt hinzuziehen, der den Patienten gesehen und seinen Sterbewunsch geprüft hat.

Harm van Maanen

Euthanasie-Gesetz mit vielen Fragezeichen

© David Ausserhofer

Er lebt in Deutschland, ist Niederländer, dort geboren und in beiden Kulturen aufgewachsen: Harm van Maanen, seit drei Jahren Executive Vice President von Springer Medizin, liegt es eigentlich fern, sich öffentlich zu medizinethischen Problemen zu äußern. Das holländische Euthanasie-Gesetz aber hat ihn so stark beschäftigt, dass er eine Ausnahme macht. "Dieses Gesetz ist gut gemeint", sagt er, " doch seine Wirkung kann fatal sein".

Die beiden Ärzte, bei denen Meijer vorspricht, scheinen von seinen Argumenten zunächst nicht überzeugt zu sein. Sie lehnen sein Ansinnen ab. Unerträgliches Leid? Er erfüllt die gesetzlichen Kriterien nicht.

Seinen Nachbarn wird er hinterher berichten, dass ihn die Ablehnung extrem geschockt und er der Entscheidung der Ärzte heftig widersprochen habe. Der Rentner hat bereits alles für seinen Tod in die Wege geleitet.

Meinung doch noch geändert

Er hat den Tag der Euthanasie geplant und den Termin für seine Beerdigung festgelegt. Er hat seine Kinder und Angehörige in Amerika informiert. Ihre Flüge sind gebucht, sie sollen dabei sein, wenn er stirbt. Alles ist formal geklärt, alles geregelt, das kann niemand mehr rückgängig machen, sagt er.

Und dann passiert etwas Bemerkenswertes. Die Ärzte korrigieren ihre Meinung und geben jetzt doch grünes Licht für die Euthanasie.

Warum? Weil der Druck zu groß ist und der Tierarzt sie vor vollendete Tatsachen gestellt hat? Weil seine Autorität als Medizinkollege die Ärzte besonders beeindruckt? Über Motive wird man nur spekulieren können.

Wie geht seine Familie mit der Entscheidung um? Gewiss: er ist schwer krank, wird schnell müde und ist wegen seiner metastasierten Leber kurzatmig. Aber er ist nicht bettlägerig.

Hat er seine Entscheidung für die Euthanasie womöglich viel zu früh getroffen? Und wäre es jetzt, kurz vor seinem Tod, nicht an der Zeit, eine Bilanz zu ziehen, zu reden über Ängste, Zweifel und Gefühle?

Psychologische Hilfe nicht vorgesehen

Hier ist eine extreme Ausnahmesituation entstanden, die alle Beteiligten maßlos überfordert. Die Familie benötigt in dieser Situation eigentlich dringend professionelle psychologische Hilfe.

Die ist allerdings im Euthanasie-Gesetz nicht vorgesehen. Was nutzt dieses Gesetz, wenn die Auswirkungen auch mit Blick auf die Befindlichkeiten der unmittelbar Betroffenen emotional fatal sind?

Das niederländische Euthanasie-Gesetz

Ärzte in den Niederlanden dürfen aktive Sterbehilfe leisten, wenn folgende Bedingungen eingehalten werden:

Ein Patient muss sein Verlangen nach Sterbehilfe unbeeinflusst, freiwillig, "wohlüberlegt" und andauernd zum Ausdruck bringen.

Der Arzt muss prüfen und bestätigen, dass der fragende Patient unerträglich und andauernd leidet und nicht zu heilen ist.

Nach einem angemessenen Zeitraum des Gesprächs darf der Arzt dann aktive Sterbehilfe leisten, wenn er sich zuvor mit einem Kollegen berät, der schriftlich Stellung nimmt.

Nach dem Tod des Patienten ist der Arzt verpflichtet, den Fall einer Kommission zu melden, die aus einem Mediziner, einem Juristen und einem Ethiker besteht. Sie prüft dann die Rechtmäßigkeit.

Rentner Meijer ist inzwischen tot. Der Hausarzt hat seine Aufgabe mit einer Spritze erledigt, ordentlich und gesetzeskonform. Doch was ist schiefgelaufen in der Schlussphase von Meijers Leben?

Keiner der Beteiligten hatte etwas Böses im Sinn. Es ging nicht um die oft zitierten Erbschaften, nicht um Geld, und sicher auch nicht um verspätete zwischenmenschliche Abrechnungen.

Euthanasie-Angebot schafft sich selbst eine Nachfrage

Geblieben ist ein Scherbenhaufen. Da sind Ärzte, die in einer extremen Zwangssituation offenbar dem Druck eines Patienten nachgegeben haben. Wer mag schon in ihrer Haut stecken? Da sind nahe Angehörige, die mit der harten Realität nicht umgehen können.

Da ist Herr Meijer selbst, der sich noch kurz vor seinem Tod eine Zigarre gegönnt, Rotwein getrunken und mit dem (vermutlich stark verunsicherten) Nachbarn am Gartenzaun ein Schwätzchen gehalten hat.

Und da sind andere Nachbarn, die sich mit dem Gedanken vertraut machen müssen, dass sie bald selbst genau zu dem Arzt in Behandlung gehen, der wenige Tage vorher - wenn auch legal - einem Menschen die tödliche Giftspritze gesetzt hat. Wie soll sich da in der Sprechstunde wieder Vertrauen entwickeln?

Eine fatale Geschichte. Und was besonders irritierend ist: In den Niederlanden scheint die Tötung alter und kranker Menschen immer stärker von der Gesellschaft als völlig normaler Weg akzeptiert zu werden. Das Euthanasie-Angebot schafft sich selbst eine Nachfrage.

Das Gesetz selbst hat darüber hinaus ein gravierendes Defizit: Es regelt nur einen Teil des Sterbe-Prozesses. Der Fall Meijer zeigt: Es wäre ungemein wichtig, dass alle Beteiligten professionell begleitet werden - die Patienten, ihre Angehörigen, und nicht zuletzt die Ärzte, die im Umgang mit Sterbenskranken immer wieder vor schwierigen und extrem belastenden Entscheidungen stehen.

* Name von der Redaktion geändert.

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