Jahrbuch Sucht

1,9 Millionen sind medikamentenabhängig

Weniger Nikotin, mehr Schlafmittel, Alkohol bleibt stabil: Das Jahrbuch Sucht zeichnet ein detailliertes Bild der Abhängigkeiten in Deutschland. Für Hypnotika sind dabei Privatrezepte inzwischen eher die Regel als die Ausnahme.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:

BERLIN. Bis zu 1,9 Millionen Menschen in Deutschland sind abhängig von Medikamenten. Diese Hochrechnung stellen die Autoren des "Jahrbuches Sucht 2017" der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) an. Die Medikamentenabhängigkeit ist ein Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe.

Nach der Tabaksucht gilt die Arzneimittelabhängigkeit damit als die zweithäufigste Form der Abhängigkeit in Deutschland, noch vor Alkohol. Der Gesundheitsforscher und Ko-Autor des Jahrbuches Professor Gerd Glaeske von der Universität Bremen beklagte die in den vergangenen Jahren zunehmende Intransparenz dieser Szene. Mehr als drei Viertel der 1,9 Millionen Betroffenen sei von Tranquilizern und Schlafmitteln abhängig. Mehr als die Hälfte der Benzodiazepine und der "Z-Drugs", Schlafmittel mit den Wirkstoffen Zolpidem und Zopiclon, würden mittlerweile auch für gesetzlich Versicherte auf Privatrezept verordnet. Das hätten Apotheker bestätigt, sagte Glaeske. Die unerwünschte Nebenwirkung Abhängigkeit verschwinde damit im Nebel.

"Das ist nicht erlaubt", sagte Glaeske bei der Vorstellung des Jahrbuchs am Dienstag in Berlin. Kassenärztliche Vereinigungen und Kassen seien aufgefordert, gegenüber Ärzten deutlich zu machen, dass ein solches Verhalten nicht akzeptiert werden könne. Die Verordnungen an den Analysen und Statistiken der Kassen vorbei solle wohl die oft über viele Jahre fortwährende Verordnung abhängigkeitsindizierter Arzneimittel verschleiern oder Regressgefahren abwenden.

Vor allem ältere Menschen jenseits eines Alters von 65 Jahren seien betroffen und unter ihnen besonders die Frauen. Sie liefen Gefahr, kognitive Fähigkeiten zu verlieren. Die Sturzgefahr steige. In Alten- und Pflegeheimen würden solche Arzneien benutzt, um ganze Abteilungen zu beruhigen, wenn zuwenig Pflegepersonal vorhanden sei, sagte Glaeske. Neuere Studien zeigten, dass der fortgesetzte Missbrauch von Schlafmitteln möglicherweise das Risiko von Alzheimerdemenz fördere.

Die Vertreter der Hauptstelle forderten Ärzte auf, abhängigkeitsindizierte Arzneimittel nur nach klarer Indikationsstellung und Aufklärung über das Abhängigkeitspotenzial zu verordnen. Die Therapiedauer sollte kurz sein. Langzeitverordnungen seien in den Leitlinien nicht vorgesehen. Zudem sollten Ärzte die Patienten bis zum Absetzen und auch bei Entzugserscheinungen behandeln. Ein bereits 2007 dafür mit der Bundesärztekammer entwickelter Leitfaden sei von der Ärzteschaft kaum abgerufen worden.

Als intransparent gilt ausweislich des Jahrbuchs auch die Versorgung mit Schmerzmitteln. Die Schmerztherapie in Deutschland werde beherrscht von Analgetika zur Selbstmedikation, warnte Glaeske.

An das Gesundheitsministerium richtete der Arzneimittelexperte die Aufforderung, den Auftrag an das Institut für Therapieforschung in München neu zu definieren. Das Institut untersuche bei Arzneimitteln ausschließlich die Altersgruppen bis zum 64. Lebensjahr. Für viele ältere Medikamentenabhängige lägen somit keine validen Daten vor.

Jahrbuch Sucht

- Alkohol: Der Pro-Kopf-Verbrauch an reinem Alkohol bleibt 2015 im Vergleich zum Vorjahr bei 9,6 Liter reinen Alkohols. 74.000 Todesfälle werden darauf zurückgeführt. Alkoholassoziierte Diagnosen waren 2015 mit 326 971 Behandlungsfällen Platz zwei in Krankenhäusern

- Tabak: 2013 starben etwa 120.000 Menschen an den Folgen des Rauchens.

- Illegale Drogen: Die Zahl der Drogentoten steigt. 2015 wurden in Deutschland 1226 drogenbedingte Todesfälle polizeilich registriert.

Quelle: DHS

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