ADHS

Das sind die frühen Hinweise

ADHS zu diagnostizieren, fällt schwer. Die meisten Anhaltspunkte liefert noch immer die Anamnese, heißt es auf einer Jahrestagung von US-Neurologen. Ihr Tipp: Ärzte sollen auf motorische Kontrollstörungen achten.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Unbändiger Bewegungsdrang ist typisch bei ADHS. Solche Kontrolldefizite rücken in den Fokus der Diagnostik.

Unbändiger Bewegungsdrang ist typisch bei ADHS. Solche Kontrolldefizite rücken in den Fokus der Diagnostik.

© Lilly

SAN DIEGO. Herrscht permanentes Chaos im Kinderzimmer? Ist der Junge in der Lage, seine schmutzigen Klamotten in den Waschkorb zu werfen oder nur irgendwo in die Ecke?

Wollen andere Kinder nicht mit ihm spielen, weil er zu impulsiv und unberechenbar ist? Kann er in der Schule keine fünf Minuten ruhig auf dem Stuhl sitzen?

Solche Fragen liefern oft wichtigere Hinweise auf ein ADHS als so mancher validierte Test, hat Professor Martha Denckla bei der Jahrestagung der US-Neurologengesellschaft AAN in San Diego berichtet.

Eine ausführliche und in die Tiefe gehende Anamnese sei bei ADHS noch immer das wichtigste Diagnosewerkzeug. "Hierbei arbeiten wir am besten auf die altmodische Art", sagte die Neurologin und Psychiaterin aus Baltimore.

Manche Kinder verstellen sich bei neuropsychologischen Tests

Validierte Fragebögen und Tests könnten zwar die Diagnose unterstützen, seien aber allenfalls als Ergänzung zu einer ausführlichen Anamnese zu sehen und würden diese nicht ersetzten.

Während neuropsychologischer Tests verhalten sich die Kinder oft anders, da sie sich hier in einer anregenden, für sie oft interessanten Umgebung befinden und dann meist gut in der Lage sind, ihre Aufmerksamkeit so zu fokussieren, dass sie nicht auffallen.

Wenn man schon Tests verwendet, dann solche, die die Betroffenen aus dem Konzept bringen oder mit Situationen konfrontieren, die ihnen nicht vertraut sind. Hieraus könne man noch am ehesten einen diagnostischen Nutzen ziehen.

Keine Aufmerksamkeitsdefizite

Denckla rät ihren Kollegen, nicht nur auf Aufmerksamkeitsdefizite und Hyperaktivität zu achten; diese Symptome seien häufig nicht das eigentliche Problem.

Eigentlich hätten die Kinder auch keine Aufmerksamkeitsdefizite, die Ärztin sprach vielmehr von einer Fehlallokation der Aufmerksamkeit.

Die Betroffenen können ihre Aufmerksamkeit zwar fokussieren, aber nicht auf das, was gerade wichtig oder wesentlich ist, sondern auf das, was ihnen gerade attraktiv erscheint.

Entsprechend könne man die leichte Ablenkbarkeit auch anders interpretieren: Kinder mit ADHS werden demnach von bestimmten Dingen oder Umständen nicht abgelenkt, sondern angezogen.

Sie scheinen bei ihren Aktivitäten bevorzugt auf das interne Belohnungssystem zu zielen und sind nur schwer in der Lage, Dinge zu tun, die sie als nicht attraktiv empfinden.

"Motorisches Überschießen"

Denckla sieht ADHS daher eher als ein Kontrolldefizit, und zwar auf motorischer, kognitiver und emotionaler Ebene.

Die Kontrolldefizite lassen sich auch diagnostisch nutzen. So kommt es bei Kindern mit ADHS oft recht früh zu einer Art "motorischem Überschießen".

Die Kinder zappeln dann nicht nur bewusst, sie machen auch oft unbeabsichtigt Bewegungen, laufen etwa auf den Fußaußenkanten, als ob sie auf glühenden Kohlen stehen, und verkrümmen dabei die Arme.

Offenbar haben die Kinder Probleme, Muskelgruppen zu hemmen, die für bestimmte Aufgaben nicht benötigt werden.

Solche Bewegungen verschwinden im Laufe der Entwicklung dann meist wieder, wenn es gelingt, - mit etwas Verzögerung - die Motorik besser zu kontrollieren.

Gehirnentwicklung verläuft manchmal langsamer

Denckla sieht in ADHS primär eine verzögerte oder nicht adäquate Entwicklung von Kontrollfunktionen. Unterstützt wird die Theorie von Kontrolldefiziten auch durch Daten aus der Bildgebung.

So ist das Volumen der grauen Substanz in den rechten Basalganglien im Vergleich zum Volumen bei gleich alten Kindern reduziert, ebenso im dorsalen Aufmerksamkeitsnetzwerk, in limbischen Strukturen und in Kleinhirnarealen.

Es scheint, als ob die Gehirnentwicklung bei ADHS partiell etwas langsamer verläuft. Ursache dafür seien zwar vermutlich vor allem genetische Unterschiede.

Denckla warnte allerdings davor, alles auf die Gene zu schieben: Auch wenn die Gene den Takt vorgeben, die Probleme treten erst in einer komplexen Wechselwirkung mit der Umgebung auf, sodass es hier genügend Ansatzpunkte gibt, um ADHS zu lindern und den Umgang mit den Kindern zu verbessern.

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