INTERVIEW

Ein Vorsorge-Sortiment bietet für jeden etwas

Vorsorge-Koloskopien retten vielen Menschen das Leben, trotzdem lassen die Teilnahmeraten zu wünschen übrig. Warum das so ist und welche Gegenmaßnahmen geplant sind, darüber sprach Professor Jürgen Riemann mit Angela Speth von der "Ärzte Zeitung".

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Professor Jürgen Riemann (rechts) bei einer Koloskopie. Hierzulande wurde knapp ein Drittel der Menschen über 55 per Darmspiegelung untersucht.

Professor Jürgen Riemann (rechts) bei einer Koloskopie. Hierzulande wurde knapp ein Drittel der Menschen über 55 per Darmspiegelung untersucht.

© Foto: Riemann

Ärzte Zeitung: Wieviele Vorsorge-Koloskopien wurden gemacht, seit sie GKV-Leistungen sind?

Riemann: Zwar liegen offiziell noch keine Angaben vor, aber nach Hochrechnungen haben von Oktober 2002 bis Ende 2007 etwa 2,8 Millionen Menschen dies Angebot angenommen. Das sind etwa 14 Prozent der Berechtigten. Das mag nach wenig klingen, aber es wurden ja auch wegen Symptomen wie Blut im Stuhl oder Bauchschmerzen Indikations-Koloskopien gemacht. Deren Zahl beträgt in Deutschland 1,5 bis 2 Millionen jährlich. Zählt man alles zusammen, liegt der Anteil der Untersuchten bei 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung über 55.

Ärzte Zeitung: Für 2006 wurde aber ein Rückgang gemeldet: 30 000 Vorsorge-Koloskopien weniger als die 600 000 im Jahr zuvor.

Riemann: Es gibt keine steigende Tendenz, auch für 2007 nicht, offenbar ist eine Sättigung erreicht. US-Daten legen nahe, dass es schwer ist, mehr als 40 Prozent der Berechtigten zu aktivieren. Bei der Vorsorge gibt es eine Drittelgesellschaft: Ein Drittel beteiligt sich, eines lehnt sie ab, mit der Begründung, mir fehlt nichts - sie haben nicht realisiert, dass Darmkrebs im Frühstadium keine Beschwerden macht. Zwischen den beiden Extremen gibt es sozusagen eine Grauzone von Unentschlossenen, die Argumenten zugänglich sind.

Ärzte Zeitung: Wie kann man sie gewinnen?

Riemann: Einen Ansatzpunkt liefert eine aktuelle Umfrage der Stiftung LebensBlicke und der Deutschen Krebsgesellschaft. Darin wurde ermittelt, warum Menschen sich nicht an der Darmkrebsvorsorge beteiligen. Als wichtigstes Hindernis erwies sich ein Informationsdefizit, das von der Dauer des Schulbesuchs abhängt: Je ungebildeter jemand ist, desto weniger weiß er auch über Darmkrebs. Jedenfalls berichteten über 70 Prozent der Befragten, niemand habe sie je auf Prävention hingewiesen, und ein Teil wünscht sich mehr Aufklärung. Insgesamt - Mehrfachangaben möglich - sagten etwa 40 Prozent, sie hätten kein Interesse, 60 Prozent hatten keine Zeit, etwa 40 Prozent Angst vor Untersuchung und Ergebnis.

Ärzte Zeitung: Wie passt die Stiftung LebensBlicke ihre Strategie diesen Erkenntnissen an?

Riemann: Die Schlagworte lauten: den Menschen die Angst nehmen, Hausärzte zur Beratung motivieren. So bestärken Regionalbeauftragte die Kollegen vor Ort, ihre Patienten anzusprechen. Das geschieht im Darmkrebsmonat, aber auch sonst. Dieses Jahr macht LebensBlicke über 300 Aktionen im ganzen Bundesgebiet.

Ärzte Zeitung: Bringen die Kampagnen im Darmkrebsmonat einen Anstieg der Koloskopien?

Riemann: Eindeutig ja, allerdings gibt es dazu keine Zahlen. Aber man kann spekulieren, dass mindestens ein Drittel der 500 000 bis 600 000 Koloskopien pro Jahr sich auf die drei Monate Februar, März und April konzentriert.

Ärzte Zeitung: Es besteht das Paradox, dass immer mehr Menschen an Darmkrebs erkranken, aber weniger daran sterben. Welche Erklärungen gibt es für diese Diskrepanz?

Riemann: Die Neuerkrankungen häufen sich, weil die Bevölkerung immer älter wird und der Häufigkeitsgipfel zwischen dem 60. und 70. Lebensjahr liegt. Es sterben weniger Patienten, weil Krebs durch die Vorsorge häufiger in frühen Stadien erkannt wird und dann heilbar ist. Deshalb geht die Schere zwischen Inzidenz und Letalität auseinander. Die letzten Erhebungen stammen von 2002: Damals kam es zu 71 400 Neuerkrankungen und zu 28 900 Todesfällen, das waren schon einige tausend weniger als zehn Jahre zuvor.

Ärzte Zeitung: Gibt es auch bei LebensBlicke Ansätze zu einem Einladungsverfahren, wie es sich in einer Studie aus Oberitalien bewährt hat?

Riemann: Ja, unsere Stiftung hat mit Professor Hermann Brenner vom deutschen Krebsforschungszentrum eine Aktion erarbeitet, Versicherte um den 55. Geburtstag persönlich zur Vorsorge-Koloskopie einzuladen. Gedacht ist an ein Anschreiben wie beim Mamma-Screening, zur Zeit laufen Verhandlungen mit AOK und Barmer Ersatzkasse. Wahrscheinlich beginnt sie noch dieses Jahr, vorerst in ausgewählten Regionen wie Rheinland-Pfalz. Ich gehe davon aus, dass die Teilnahmeraten steigen.

Ärzte Zeitung: Sie vertreten die Ansicht, die Patienten sollten selbst entscheiden, welche Form der Früherkennung sie wählen?

Riemann: Ja, der Darmspiegelung wird immer ein Makel anhaften, nie werden sich 100 Prozent der Menschen untersuchen lassen. Daher muss man ein Sortiment bereit halten: chemische und immunologische Tests auf okkultes Blut im Stuhl, neben der herkömmlichen Koloskopie auch virtuelle Techniken oder die Kolonkapsel. Ziel ist, durch Erweiterung der Palette dem Einzelnen akzeptable Bedingungen zu bieten. Jemanden mit dem Goldstandard Koloskopie unter Druck zu setzen wäre der falsche Weg. Jeder, der an einer Vorsorgemaßnahme teilnimmt, welcher auch immer, ist zu begrüßen.

Ärzte Zeitung: Sie und ihre Mitarbeiter prüfen derzeit den Stellenwert der virtuellen Methoden. Wie weit sind sie gediehen?

Riemann: Nach einer Pilotstudie ist die MR-Kolonoskopie der konventionellen Koloskopie in der Detektion von Polypen zwischen 5 und 10 mm ebenbürtig. Freilich besteht keine Behandlungsoption. Wird eine Veränderung gefunden - und das ist bei jedem Dritten der Fall - ist doch noch eine Koloskopie nötig. Beide Verfahren kosten etwa gleich, aber die Kassen bezahlen die virtuellen Techniken noch nicht.

STICHWORT

LebensBlicke - aktiv seit zehn Jahren

Dieses Jahr feiert die Stiftung LebensBlicke e.V. zur Früherkennung von Darmkrebs ihr zehnjähriges Jubiläum. Gegründet hat sie Professor Jürgen Riemann aus Ludwigshafen. Durch Aufklärung die Zahl der Darmkrebstoten bis 2010 zu halbieren - das war damals die Vision. Zwar war das Ziel etwas hochgesteckt, deutliche Erfolge sind dennoch sichtbar. Erreicht wurden sie etwa mit Infoveranstaltungen oder Experten-Hotlines. Aktuell läuft die Suche nach 1000 Menschen, die je 1000 Euro spenden. (ars)

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