"Eine Ausnahmepatientin, die anderen Mut macht"

Eine bewegungsunfähige Patientin mit Amyotrophischer Lateralsklerose (ALS) liegt in einem Bett. Das Besondere: Das Bett steht in der Volksbühne Berlin. Dort spielt die ALS-Patientin Angela Jansen in einer Performance zum Thema "Theater als Krankheit" mit (wir berichteten). Ärztlich betreut wird sie von Dr. Thomas Meyer, neurologischer Oberarzt an der Charité. Ihn hatte der Dramaturg Christoph Schlingensief um einen Kontakt zu einem ALS-Patienten gebeten. Angela Mißlbeck, Mitarbeiterin der "Ärzte Zeitung", sprach mit ihm über die Besonderheiten des Engagements.

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Ärzte Zeitung: Herr Dr. Meyer, Sie betreuen Frau Jansen schon, seit Sie an der Charité tätig sind. Solange wie Sie Frau Jansen kennen, wird sie invasiv beatmet. Um sich mit anderen Menschen zu verständigen, benötigt sie einen Computer. Wieso haben Sie ausgerechnet Frau Jansen für das Theater vorgeschlagen?

Meyer: Eigentlich wollte Herr Schlingensief einen männlichen Patienten. Frau Jansen habe ich aus zwei Gründen für geeignet gehalten. Sie hat das Maximalbild der Erkrankung schon erreicht, ist schon lange beatmet und hat diesbezüglich ihre Entscheidungen getroffen. ALS-Patienten, die diese Entscheidung - Beatmung oder nicht - noch vor sich haben, sind psychisch in einem Ausnahmezustand. Einen solchen Patienten, dessen Prognose noch aussteht, hätte ich nicht guten Gewissens auf die Bühne gelassen.

Ärzte Zeitung: Und der zweite Grund?

Meyer: Frau Jansen hat eine sehr starke Persönlichkeit. Im Arzt-Patienten-Kontakt habe ich bemerkt, daß sie einen kräftigen Lebenswillen, viele soziale Kontakte und subtilen Humor hat. Außerdem hat sie als ehemalige Tänzerin Bühnenerfahrung, und sie schreibt an einem Buch.

Ärzte Zeitung: Ist Frau Jansen eine Ausnahmepatientin?

Meyer: Ja und nein. Ja, weil sie von ihrer Persönlichkeit aus für öffentliche Auftritte geeignet ist. Nein, weil sich vor allem jüngere ALS-Patienten zunehmend für die Beatmung und die Kommunikation mittels Augenbewegung und Computer entscheiden. In dieser Hinsicht ist Frau Jansen typisch. Patienten wie ihr ermöglicht die Entwicklung der elektronischen Medien eine Lebensperspektive, bei der der Körper keine große Rolle spielt. Ältere Patienten dagegen sehen diese Möglichkeiten selten. Sie entscheiden sich immer noch sehr oft gegen die Beatmung, weil sie nicht über einen Computer kommunizieren wollen.

Ärzte Zeitung: Überkommen Sie manchmal Zweifel, ob die Patientin den Auftritten gewachsen ist?

Meyer: Ja, diese Zweifel hatte ich tatsächlich, aber sie wurden im Vorfeld ausgeräumt. Die Künstlerische Betriebsdirektion der Volksbühne bezahlt auf meine Empfehlung hin eine zweite Pflegekraft und stellt ein Pflegebett zur Verfügung, das dem von Frau Jansen zuhause entspricht. Die letzten Zweifel räumt Frau Jansen selbst immer wieder aus: Sie hat den unbedingten Willen zu diesen Auftritten.

Ärzte Zeitung: Erstaunlich...

Meyer: ...und auch wieder nicht. Sie kommt so mit Menschen in Kontakt, die sie anders nie kennengelernt hätte. Die Premiere fand an Frau Jansens Geburtstag statt. Nach der Aufführung hat das ganze Ensemble für sie "Happy Birthday" gesungen. Und auch jetzt sammeln sich nach dem Schlußapplaus oft 30 bis 40 Zuschauer um ihr Bett. So bekommt sie extrem viel Zuwendung.

Ärzte Zeitung: Wie verträgt die Patientin die Auftritte?

Meyer: Sehr gut. Frau Jansen hatte einmal einen Termin bei mir und mußte anschließend zur Probe. Eine Terminverlegung hat sie abgelehnt. So war sie zwölf Stunden am Stück unterwegs, obwohl der Gebrauch des Kommunikationsgeräts viel Konzentration erfordert. Psychisch geht es ihr durch die Auftritte sogar besser. Das Ganze hat sie sehr motiviert.

Ärzte Zeitung: Im Theater sagt Frau Jansen immer: Ich bin nicht krank, nur bewegungsunfähig. Was halten Sie als Arzt von dieser Aussage?

Meyer: Diese Aussage würden die wenigsten ALS-Patienten treffen. Frau Jansen stellt ihre Erkrankung sehr in den Hintergrund. Sie betont die Fähigkeiten und Dinge, die ihr geblieben sind, deutlich mehr als das, was ihr genommen wurde. Auch in dieser Hinsicht ist sie eine Ausnahmepatientin, die anderen hoffentlich Mut macht.

STICHWORT

Amyotrophische Lateralsklerose

Die Amyotrophische Lateralsklerose ist eine progrediente degenerative Erkrankung des Zentralnervensystems. Die Grundlage für die Symptome besteht in einer Degeneration von motorischen Nervenzellen im Rückenmark und in den Hirnnerven. Man unterscheidet eine sporadische, eine familiäre und eine endemische Form. Die Patienten fühlen sich in vielen Bewegungen stark eingeschränkt. Bewußtsein und intellektuelle Fähigkeiten werden nicht beeinträchtigt. Die Diagnose wird durch typische Befunde bei der neurologischen Untersuchung gestellt. Die Ursache der Erkrankung ist ungeklärt. Die Progression wird verlangsamt durch Riluzol (Rilutek®). 

 

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