Einrad statt Drogen - Zirkus holt Kinder von der Straße

Von Stefan Voß Veröffentlicht:

Mit Keulen, Jonglierbällen und dem Einrad kommt Jegor besser zurecht als mit den verflixten Visa-Formularen. "Muß ich das alles in Druckbuchstaben schreiben?", brummt der 13jährige russische Junge. Der Sankt Petersburger Straßenkinder-Zirkus "Upsala" geht mit zehn Artisten auf große Tournee. In zwölf Städten sind Auftritte geplant. Die Reise führt von Nordrhein-Westfalen über Bayern und Hessen bis Berlin.

Die deutsche Projektleiterin Astrid Schorn rümpft beim Eingang zum imposanten, nagelneuen Zirkuszelt die Nase. "Hier riecht es ja schon wie in einer richtigen Manege", schimpft die 29jährige Sozialpädagogin. "Die Akrobaten sollten häufiger die Füße waschen und auch mal die Socken wechseln."

Die Körperhygiene zählt zu den geringsten Problemen von Wanja, Kolja, Galja und Mascha. Die Schüler im Alter zwischen sieben und 18 Jahren haben einen Teil ihres Lebens auf den Straßen der Fünf-Millionen-Stadt verbracht. Jedes Kind hat zu Hause große Schwierigkeiten. Trinkende Eltern, Drogen, Armut, Gewalt und Vernachlässigung haben das junge Leben zur Hölle gemacht. Der Petersburger Zirkus versucht, die jungen Streuner wieder zurück in ein geregeltes Leben zu führen.

Vor fünf Jahren gründete Schorn den Zirkus "Upsala". Auf dem Einrad fuhr die Berlinerin durch Sankt Petersburg und sprach Straßenkinder an den Metrostationen an. Zirkus sei genau das richtige für streunende Kinder und Jugendliche. "Sie suchen das Abenteuer, kennen keine Angst und verlangen ständig nach Selbstbestätigung", betont Schorn.

Zu wenig finanzielle Unterstützung und Widerstand der Behörden ließen Astrid Schorn anfangs beinahe verzweifeln. Doch dann tauchten Sponsoren aus Deutschland wie aus Rußland auf. Auch mit Polizei und Jugendämtern wurden Lösungen gefunden. Als die Choreografin Larissa anheuerte, eine junge Russin mit ebenfalls schwieriger Kindheit, ging es aufwärts mit dem Kinderzirkus.

Neben Larissa arbeiten heute noch zwei Jonglierprofis und ein pensionierter Akrobatik-Meister mit den bis zu 50 Kindern. Einige der jungen Artisten fahren zum dritten Mal nach Deutschland. "Sobaki" (Hunde) heißt das neue Programm auf russisch und "Straßenstreuner" auf Deutsch. Die an Theater-Zirkus angelehnte Inszenierung handelt von Straßenhunden, die von ihren Besitzern verjagt wurden und die dennoch wieder ein Zuhause finden wollen.

Für den kleinen Grischa zählt bei den Nachmittagen im und um das Zirkuszelt vor allem die Gemeinschaft mit den Gleichaltrigen. "Alle sind so lieb zu mir", sagt der Zehnjährige mit strahlendem Lächeln, während er ein wenig nervös zwei Jonglierbälle knetet. Grischa lebte vorübergehend in einem Heim und ist nun wieder bei seiner Familie. "Es ist unser Ziel, die Kinder wieder daheim unterzubringen. Denn in den Heimen ist die Lage meist noch erbärmlicher", betont Schorn.

Kinder wie den kleinen Grischa gibt es in Petersburg tausende. Wer abends mit der U-Bahn in die Vororte fährt, sieht die verzweifelten Gestalten in dunklen Ecken hocken, mit Klebstoff-Tüten zum Schnüffeln für den schnellen, gefährlichen Rausch. Grischa hat seit der Bekanntschaft mit dem Kinderzirkus wieder mit dem Träumen begonnen.

"Irgendwann will ich Weltmeister im Jonglieren werden", posaunt der Junge mit den braunen Locken heraus. "Das müßten 13 Bälle gleichzeitig sein. Ich schaffe immerhin schon drei."

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