Haschisch-Paradoxon

Kiffen könnte Typ-2-Diabetes verzögern

Marihuana-Raucher zeigen zwar vermehrt die Vorstufe von Diabetes, doch die Zuckerkrankheit bricht bei ihnen viel seltener aus. Diese Erkenntnis aus einer Langzeit-Studie über 25 Jahre gibt den Forschern Rätsel auf.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Freunde des gepflegten Joints hatten in der Studie seltener Diabetes als Teilnehmer, die nach eigenen Angaben nie Cannabis konsumiert hatten.

Freunde des gepflegten Joints hatten in der Studie seltener Diabetes als Teilnehmer, die nach eigenen Angaben nie Cannabis konsumiert hatten.

© Richard Villalon / fotolia.com

MINNEAPOLIS. Cannabinoide haben unbestreitbar eine appetitfördernde Wirkung. Wer viel kifft, sollte daher Gefahr laufen, mehr Kalorien aufzunehmen als ihm gut tut - mit allen Konsequenzen wie Übergewicht, Herzinfarkt und Diabetes.

Tatsächlich gibt es Hinweise, dass Cannabiskonsumenten auch mehr Nahrung aufnehmen als Drogenabstinenzler, allerdings werden sie dadurch nicht dicker - ganz im Gegenteil: BMI und Bauchumfang sind nach bisherigen Untersuchungen geringer und die Insulinwerte besser als beim nicht kiffenden Teil der Bevölkerungen, schreiben Forscher um Michael Bancks von der Universität in Minneapolis.

In einer Metaanalyse von acht Studien wurde den Freunden eines gepflegten Joints sogar ein um 30 Prozent reduziertes Diabetesrisiko bescheinigt.

So richtig erklären lässt sich dieses "Haschisch-Paradoxon" aber nicht, und so hatten die Forscher um Bancks ihre Zweifel, dass es überhaupt existiert.

Viele der bisherigen Studien waren nur Querschnittsuntersuchungen, häufig seien Begleit- und Störfaktoren nicht ausreichend berücksichtigt worden. Dies alles habe möglicherweise zu fehlerhaften Annahmen geführt.

Ein Drittel weniger Diabetes

In der Hoffnung auf besser belastbare Resultate hat das Team um den Epidemiologen nun Daten der prospektiven Studie CARDIA (Coronary Artery Risk Development in Young Adults) genauer unter die Lupe genommen (Diabetologia 2015, online 13. September).

Das Besondere an CARDIA ist die sehr junge Studienpopulation: Aufgenommen in die Langzeitstudie wurden nur gesunde Menschen im Alter von 18 bis 30 Jahren.

Sie werden seit nunmehr 25 Jahren regelmäßig auf Herz und Nieren untersucht. Die Studiendesigner wollen auf diese Weise die Beteiligung von Risikofaktoren bei der Entwicklung von Herzkreislauferkrankungen besser verstehen.

Gemessen werden unter anderem Blutzucker- und Insulinwerte, alle paar Jahre unterziehen sich die Teilnehmer einem Glukosetoleranztest. Bei jeder Untersuchung werden auch per Fragebogen Lebensstilfaktoren erfasst, etwa körperliche Aktivität, Ernährung oder der Konsum von Alkohol, Tabak und anderen Drogen.

Studie geht seit 25 Jahren

Das Team um Bancks analysierte zum einen die Diabetes- und Prädiabetesprävalenz nach 25 Jahren, zum anderen beobachtete es die Veränderung der Blutzuckerwerte über den gesamten Studienverlauf.

Für die erste Analyse konnten die Forscher Angaben und Messwerte von über 3000 Teilnehmern auswerten, die sich zur Nachuntersuchung nach 25 Jahren einfanden.

Von diesen hatten 357 bereits einen Typ-2-Diabetes und rund 1200 einen Prädiabetes. Davon wurde ausgegangen, wenn der Nüchternglukosewert zwischen 100 und 125 mg/dl lag, die Glukosewerte zwei Stunden nach dem Toleranztest 200 mg/dl oder der HbA1c 6,5 Prozent überschritten.

Wie sich herausstellte, hatten ehemalige und vor allem aktuelle Kiffer seltener Diabetes als Teilnehmer, die nach eigenen Angaben nie Cannabis konsumiert hatten. Bei aktuellen Drogenkonsumenten war die Prävalenz etwa um ein Drittel reduziert.

Soweit stehen die Daten also im Einklang mit anderen Untersuchungen. Berücksichtigten die Forscher um Bancks nun jedoch Begleitfaktoren wie Tabakrauchen, Alkoholkonsum, körperliche Aktivität und BMI, dann verschwand der Vorteil für die Cannabisfreunde.

Umgekehrt sah es bei der Prävalenz eines Prädiabetes aus. Diese war bei den Cannabiskonsumenten signifikant erhöht, und zwar am stärksten bei denen, die aktuell noch kifften (OR = 1,66) oder in der Vergangenheit mehr als 100 Joints konsumiert hatten (OR = 1,38).

Wurden jedoch alle Begleitfaktoren berücksichtigt, war die Prädiabetesprävalenz nur noch bei aktuellen Kiffern signifikant erhöht, nicht mehr bei den ehemaligen.

Höhere Rate für Prädiabetes

Ein ähnliches Bild ergab sich, wenn sich die Studienautoren den zeitlichen Verlauf anschauten. Sie wählten dabei das siebte Studienjahr als Ausgangspunkt - zum einen, weil erst dann regelmäßig der Nüchternglukosewert bestimmt wurde, zum anderen, weil sich der Anteil der aktuellen Kiffer dann kaum noch änderte.

So hatten die meisten der Teilnehmer den Cannabiskonsum zu diesem Zeitpunkt bereits aufgegeben.

In den folgenden 18 Jahren war die Diabetesinzidenz bei denjenigen am geringsten, die in der Vergangenheit am meisten Cannabis konsumiert hatten: Sie lag um 22 Prozent niedriger als bei den Komplettabstinenzlern, allerdings war der Unterschied nicht signifikant und verschwand gänzlich, wenn wiederum eine Reihe von Begleitfaktoren berücksichtigt wurde.

Dafür war die Rate für einen Prädiabetes umso höher, je mehr jemand in seinem Leben gekifft hatte: Bei mehr als 100 Joints war sie um 40 Prozent erhöht, und hier blieb das Ergebnis auch nach Berücksichtigung sämtlicher Begleitfaktoren signifikant.

Forscher rätseln

Was lässt sich nun daraus schließen? Die Studienautoren um Bancks sind von den Ergebnissen reichlich verwirrt.

"Es ist unklar, wie der Konsum von Marihuana jemandem eine erhöhtes Prädiabetes-, aber nicht ein erhöhtes Diabetesrisiko beschert", schreiben sie.

Dabei scheint ihnen die plausibelste Erklärung nicht besonders zu gefallen: dass Cannabis die Progression zu einem Diabetes verzögern könnte. In diesem Fall wäre es nicht überraschend, wenn Cannabiskonsumenten seltener einen Diabetes, dafür aber häufiger die Vorstufe der Erkrankung zeigen.

Zwar war die Diabetesprävalenz und -inzidenz unter den Cannabiskonsumenten statistisch nicht signifikant erniedrigt, dies kann aber schlicht an der geringen Zahl der Diabetiker in der Studie gelegen haben - sie war rund fünfmal niedriger als die der Teilnehmer mit Prädiabetes.

Immerhin, das geben die Studienautoren zu, gebe es auch Hinweise aus Tierversuchen, wonach Marihuana antientzündliche Wirkungen habe und den Stoffwechsel ankurbele. So hätte die Droge in Experimenten die Progression eines Typ-1-Diabetes verzögert.

Fast jeder hat schon mal Cannabis probiert

Eine ebenfalls sehr plausible Erklärung wäre schlicht, dass Kiffen überhaupt keinen Einfluss auf das Diabetes- und Prädiabetesrisiko hat, denn die Ergebnisse der Studie variierten sehr stark - je nachdem, welche Begleit- und Störfaktoren berücksichtigt wurden.

Ein großes Problem dürfte auch sein, dass die Referenzgruppe der Niemalskiffer sehr klein war: Nur 10 - 20 Prozent der Studienteilnehmer gaben an, noch nie Cannabis angerührt zu haben.

Der Anteil dieser Komplettabstinenzler dürfte jedoch noch weit geringer sein, wenn man davon ausgeht, dass nicht jeder den Konsum illegaler Drogen offen zugibt.

All dies könnte zu massiven Verzerrungen geführt haben. Das Versprechen, anhand der CARDIA-Daten substanziell mehr über das Diabetesrisiko von Cannabiskonsumenten zu erfahren, konnten Bancks und Mitarbeiter dann wohl doch nicht einlösen.

Cannabis-Konsum nicht beschönigen

Aufgrund der bisherigen Studiendaten sehen die Forscher allerdings keinen Grund, den Cannabiskonsum zu beschönigen.

Selbst wenn die Droge einige günstige metabolische Effekte habe, so würden allein die Risiken durch das Cannabisrauchen diesen Nutzen zunichte machen.

Sich Joints reinzuziehen, um einen Diabetes zu verhindern - für Bancks und Kollegen jedenfalls keine gute Idee.

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