Multiple Sklerose

Weniger Behinderungen

Eine US-Studie bestätigt den Nutzen der Pharmakotherapie bei Multipler Sklerose im Langzeitverlauf: Gehhilfen werden seltener nötig.

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BERLIN. Knapp 17 Jahre nach der Erstdiagnose sind fast 90 Prozent der Patienten mit Multipler Sklerose (MS) noch ohne Hilfe gehfähig. Diese Zahlen einer aktuellen US-amerikanischen Studie beschreiben die Fortschritte beim Langzeitverlauf der MS (Ann Neurol 2016; 80:499-510).

Ohne Therapie wären nach vergleichbaren epidemiologischen Studien in dieser Zeit nur etwa 50 Prozent ohne Gehhilfe oder einen Rollstuhl ausgekommen, heißt es in einer Mitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN).

MS-Behandlung auf einem guten Weg?

"Die aktuellen Zahlen stammen zwar nur aus einem einzigen Zentrum, deshalb muss man sie mit Vorsicht interpretieren. Sie zeigen aber, dass wir bei der MS auf einem guten Weg sind und unseren Patienten heute eine Vielzahl Therapien anbieten können, die ihre Selbständigkeit und Lebensqualität lange erhalten", wird Professor Heinz Wiendl von DGN zitiert.

"Die Studie macht aber auch deutlich, dass die MS-Forschung noch lange nicht am Ziel ist", ergänzt der Direktor der Klinik für Neurologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. "Wir können noch nicht allen Patienten schwere Einschränkungen ersparen und haben noch keine guten individuellen Vorhersagemöglichkeiten für den Verlauf und das Ansprechen auf die Therapie."

Um besser zu verstehen, inwieweit heutige Standardmedikamente auf lange Sicht Behinderungen reduzieren, hat das Forscherteam um Stephen L. Hauser von der University of California in San Francisco Daten von 517 Patienten ausgewertet, die über viele Jahre in diesem Zentrum in Behandlung und unter Beobachtung waren.

EDSS als Skala benutzt

Die Studienteilnehmer wurden bis zu zehn Jahre lang begleitet. Die Forscher erfassten rückblickend die Entwicklung von Behinderungen seit der Diagnose. Dafür nutzten sie die Standardskala EDSS (Expanded Disability Status Scale), die MS-bedingte Behinderungen systematisch erfasst.

Sie reicht von 0 (= keine neurologischen Auffälligkeiten) bis 10 (= Tod infolge MS). Es zeigte sich, dass der Wert bei 41 Prozent der Teilnehmer unter einer Therapie mit Interferon beta und nötigenfalls hochpotenten Wirkstoffen wie Natalizumab und Rituximab stabil blieb oder sich sogar verbesserte, heißt es weiter.

Einen EDSS-Wert von 6 oder größer – gleichbedeutend mit der Notwendigkeit von Gehhilfen oder (ab EDSS 7) eines Rollstuhls – erreichten während der medianen Krankheitszeit von 16,8 Jahren hier lediglich 10,7 Prozent der Patienten.

Bleiben die Patienten unbehandelt, seien es etwa 50 Prozent, die in diesem Zeitraum ähnlich schwere Behinderungen erleiden, wie frühere Studien gezeigt haben.Überraschend war auch, dass lediglich 18,1 Prozent der Patienten, die anfangs mit der schubförmigen Form der MS (RRMS) diagnostiziert wurden, eine sekundär progrediente MS (SPMS) entwickelten.

Wiederum zeigen frühere Erfahrungen, dass ohne Behandlung mindestens doppelt so viele im Beobachtungszeitraum zur SPMS konvertieren würden, nämlich zwischen 36 Prozent und 50 Prozent der Patienten.

Großteil hat "Plattformtherapie" erhalten

Der Großteil der Patienten hatte anfänglich eine "Plattformtherapie" erhalten mit Interferon (IFN) beta-1b, IFM beta-1a oder Glatirameracetat. Diejenigen, bei denen eine deutliche Verschlechterung eingetreten war, hatte man auf eine "Hochpotenztherapie" umgestellt mit meist neueren Substanzen wie Natalizumab, Rituximab oder auch Mitoxantron und Cyclophosphamid.

Weitere Präparate wie Fingolimod, Dimethylfumarat und Teriflunomid wurden zwar ebenfalls verabreicht. Sie sind aber erst seit wenigen Jahren auf dem Markt, sodass sie bei der Analyse der ersten beiden Studienjahre nicht berücksichtigt wurden.

"Obwohl es den Kollegen aus San Francisco gelungen ist, den Krankheitsverlauf abzumildern, erlitten über die Zeit 59 Prozent der Studienteilnehmer eine klinisch signifikante Behinderung. Das illustriert den anhaltenden Bedarf an effektiveren krankheitsmodifizierenden Therapien für die schubförmige MS und generell für effektive Therapien gegen die progrediente MS", betont Wiendl.

Dass eine Immuntherapie spätere Behinderungen reduzieren kann, belegte auch eine kürzlich veröffentlichte multizentrische retrospektive Beobachtung (Ann Neurol 2016; 80: 89–100). Hier konnte ebenfalls gezeigt werden, dass die Langzeitprognose unter Immuntherapie besser ist, als man es aus früheren natürlichen Verlaufsstudien oder im direkten Vergleich ohne Therapie erwarten würde, schreibt die DGN.

"Beide Untersuchungen leiden allerdings unter der methodischen Einschränkung, dass direkte Vergleichsgruppen aus gleichen Regionen mit gleicher Krankheitsaktivität, aber ohne entsprechende Therapie fehlen", so Wiendl.

Hauser und seine Kollegen nutzten ihre Daten auch, um den Stellenwert bestimmter klinischer und bildgebender Bewertungen für die Prognose der MS zu messen.

Verblüffende Analyse

Überraschenderweise stellten sie dabei fest, dass Patienten, bei denen in den ersten zwei Jahren keine Krankheitsaktivität nachweisbar war (no evidence of disease activity, NEDA), langfristig nicht besser abschnitten als die Gruppe insgesamt.

Da der NEDA-Status wesentlich auf jährlichen MRT-Aufnahmen basiert, würde ihre Studie auch in Frage stellen, dass diese Praxis bei Entscheidungen zur Therapie nützlich ist, schreiben die Wissenschaftler aus San Francisco: "Es ist uns nicht gelungen, irgendwelche nachfolgende Auswirkungen einer frühen MRT-Aktivität auf das klinische Ergebnis zu finden."

Neue Hirnläsionen würden zwar auch in klinischen Studien zur MS alle zwei Jahre per MRT erfasst. Frühere Studien, die diesen Läsionen einen negativen prognostischen Wert attestieren, würden durch die aktuelle Untersuchung allerdings nicht bestätigt. (eb)

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