Wer bleibt wie oft sitzen und schafft dennoch das Abitur?

Von Karl-Heinz Reith Veröffentlicht:

Gläsern soll der Schüler sein, durchschaubar seine Bildungskarriere. Wer bleibt wie oft sitzen und schafft dennoch das Abitur? Wer belegt welche Leistungskurse? Soziale Stellung der Eltern, nationale Herkunft, Umgangssprache in der Familie, Wechsel des Wohnorts, der Schule - oder gar ein Umzug über Landesgrenzen? Datenerfassung total bei zwölf Millionen Schülern - in der Kultusministerkonferenz (KMK) wird derzeit eine Aktion zur Sammlung von Informationen geprüft, die in der Geschichte der Bundesrepublik ihresgleichen sucht.

Was die Herzen von Statistikern und Sozialwissenschaftlern höher schlagen läßt, treibt Datenschützer in den "schieren Wahnsinn", so ein hoher Beamter einer Landesbehörde. "Datengewinnungsstrategie für die nationale Bildungsberichterstattung" ist der Arbeitstitel des Projekts, das seit gut zwei Jahren nach einem nur wenig konkreten Grundsatzbeschluß der 16 Kultusminister von den KMK-Statistikern in Bonn und einer Länder-Kommission vorangetrieben wird. Bei einem Treffen der Bildungs-Staatssekretäre schien die Sache fast schon spruchreif - hätte nicht plötzlich der sächsische Vertreter "erhebliche Bedenken" angemeldet.

Das Projekt erinnere ihn "in fataler Weise an die DDR, wo es dem Staat gelang, Unmengen von Daten zu sammeln und den Einzelnen auszuleuchten", zitiert die "Süddeutsche Zeitung" dazu Sachsens Kultusminister Steffen Flath (CDU). Doch die Projekt-Initiatoren verfolgen in der Tat andere Ziele. Wer etwa Erkenntnisse über den Bildungserfolg von Migrantenkindern gewinnen will, braucht dazu saubere Daten, argumentiert der Vorsitzende der KMK-Arbeitsgruppe Statistik, der hessische Bildungs-Staatssekretär Joachim Jacobi.

Das wird von den Datenschützern auch nicht bestritten. Argwohn löst hingegen die Absicht aus, alle Schüler mit einer persönlichen Identitäts-Nummer auszustatten, unter der die Daten erhoben werden sollen - möglichst schon im Kindergarten und bis hin zu Abitur, Hochschulabschluß, Berufseinstieg und gar dem erstem Karrieresprung.

Zweifel haben die Datenschützer, ob sich die gewünschte Anonymisierung mit einer solchen Identitäts-Nummer tatsächlich auch realisieren läßt oder ob nicht doch persönliche Zuordnungen aus dem Datenfundus möglich sind. Die Vize-Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Marianne Demmer, fürchtet, daß die Identitäts-Nummer später wie ein Bildungs-"Steckbrief" wirken könnte - vor allem vor dem Hintergrund der "deutschen Unsitte", schon bei Zehnjährigen in der vierten Grundschulklasse die weitere Schullaufbahn festzulegen.

Noch in den 70er Jahren war es in einigen Bundesländern üblich, in der Schulstatistik auch den Beruf des Vaters zu erfassen. Spätestens aber mit dem Volkszählungsurteil des Verfassungsgerichtes 1983 verschwanden solche Angaben.

Gleichwohl werden den Kultusministern jetzt seit über 30 Jahren immer wieder robuste wissenschaftliche Daten zur hohen Abhängigkeit von Bildungserfolg und sozialer Herkunft in Deutschland vorgelegt: Frühere Sonderauswertungen der Volkszählungen, umfangreiche Mikrozensus-Studien, die regelmäßigen Sozialerhebungen des Deutschen Studentenwerkes (DSW) bis hin zu den beiden großen PISA-Analysen 2000 und 2003 - wo umfassend auch der soziale Hintergrund von jeweils 55 000 Schülern im Alter von 15 Jahren erfaßt wurde.

Das alles waren punktuelle Datenerhebungen, keine langfristige Total-Erfassung individueller Bildungsverläufe von jungen Menschen - wie sie die Kultusministerkonferenz mit dem neuen Projekt plant. Sieht man von den PISA-Studien ab, wanderten die meisten der bisherigen, oft aufwendigen Sozialstudien direkt ins Archiv und wurden in den KMK-Gremien nicht einmal diskutiert. (dpa)

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