Kommentar des Experten

Widersprüche und Ungereimtes in der Diabetologie - Teil 1

In vier Beiträgen geht es um scheinbare und tatsächliche Widersprüche. Heute: Nomenklatur, Symptome, Pathogenese und Basistherapie.

Von Prof. Hellmut Mehnert Veröffentlicht:

Schon der Name "Diabetes mellitus" oder "Zuckerkrankheit" birgt einen Widerspruch zum Gesamtgeschehen der Erkrankung in sich: Handelt es sich doch keineswegs nur um eine Erkrankung des Kohlenhydratstoffwechsels, sondern der ganze Stoffwechsel (vor allem auch der Fettstoffwechsel!) ist betroffen. Richtig ist, dass die Glucose (nach Wieland der "Schädling Glucose") eine wichtige Bedeutung für das Entstehen von Komplikationen, aber auch für die Diagnose und die Stoffwechselkon-trollen hat. Außerdem ist zu bedenken, dass im Grunde dieser eine Name für mindestens zwei Krankheiten zu gelten hat, Typ-1- und Typ-2-Diabetes, wozu neuerdings als Typ-3-Diabetes sämtliche anderen Diabetesformen zu rechnen sind. Völlig widersprüchlich waren die alten Bezeichnungen "Jugendlicher Diabetes" und "Altersdiabetes", da wir inzwischen wissen, dass der Typ-1-Diabetes auch im hohen Alter und vor allem auch der Typ-2-Diabetes im Kindes- und Jugendlichenalter auftreten können. Kardinalsymptome des Diabetes sind unter anderen Hunger, Durst und Polyurie. Trotzdem ist zu bedenken, dass bei den Typ-2-Diabetikern nur ein Drittel der Patienten solche Symptome bei der Diagnose aufweist.

Die Pathogenese des Typ-1-Diabetes ist als Autoimmunerkrankung ohne Widersprüche. Hingegen wurde beim Typ-2-Diabetes lange Zeit die Hyperinsulinämie als typisches und schädliches Merkmal bei der Diagnose angesehen. De facto ist es aber so, dass solche Patienten bereits eine relative Hypoinsulinämie aufweisen, da sie die gleichzeitige Insulinresistenz eigentlich mit noch mehr Insulin kompensieren müssten, um normoglykämisch zu werden.

Auch im Hinblick auf die Rolle des Glucagons in der Pathogenese gibt es in der Geschichte des Diabetes Widersprüche. So hat schon Bertram in den 1930er- und 1940er-Jahren dem hyperglykämisierenden Hormon der A-Zellen der Bauchspeicheldrüse eine wichtige Rolle zugemessen, was aber damals bestritten wurde. Jetzt weiß man, dass in der Tat Typ-2-Diabetiker eine vermehrte Glucagonsekretion aufweisen, auch wenn dies nur einen kleineren Aspekt in der Pathogenese darstellt.

Wie sieht es aus mit der Prävention? Hier ist ein Widerspruch insofern vorhanden, als Maßnahmen zur Vorbeugung des Diabetes bei Prädiabetikern vernachlässigt und praktisch nicht honoriert werden. Dabei spielt die Adipositas eine Schlüsselrolle bei der Pathogenese des Typ-2-Diabetes. Der Begriff Diät ist weitgehend durch die weniger Angst einflößende Vokabel Ernährungstherapie ersetzt worden. Dabei wäre das Wort Diät für Ernährungs- und Bewegungstherapie ein treffender Ausdruck, allerdings bei Zusammenführung beider Therapieformen. Bei der Schulung ergibt sich fast das gleiche Problem wie bei der Prävention: Diese so wichtige Maßnahme wird immer noch vernachlässigt und schlecht honoriert.

Was soll man sagen zu der Feststellung der DDG in ihren Leitlinien zum Typ-2-Diabetes, dass mit Ernährungs- und Bewegungstherapie sofort gleichzeitig Metformin verordnet wird? Ist dies ein Widerspruch, wenn ein Medikament mitverordnet wird und der Patient so womöglich die Bedeutung von Ernährung und Bewegung unterschätzt?

Dies ist wohl nicht so, da die Forderung nach einer strengen Diabeteseinstellung zu Beginn zu dieser Kombination geführt hat und da das Metformin die diätetischen Maßnahmen erleichtert.

Diabetologie, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten - diesen Themen widmet sich Professor Hellmut Mehnert seit über 50 Jahren.

 

1967 hat Mehnert die weltweit größte Diabetes-Früherfassungsaktion gemacht. Er hat auch das erste und größte Schulungszentrum für Diabetiker in Deutschland ins Leben gerufen. Mehnert ist Träger der Paracelsus-Medaille, der höchsten Auszeichnung der Deutschen Ärzteschaft.

Lesen Sie dazu auch: Widersprüche und Ungereimtes in der Diabetologie - Teil 1 Widersprüche und Ungereimtes in der Diabetologie - Teil 2 Widersprüche und Ungereimtes in der Diabetologie - Teil 3 Widersprüche und Ungereimtes in der Diabetologie - Teil 4 Widersprüche und Ungereimtes in der Diabetologie - Teil 5

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