Gekündigt

Gesundes Kinzigtal: Bisheriges Vertragsmodell ist für die AOK tot

Das Gesunde Kinzigtal gilt als langjähriges Leuchtturmprojekt eines Integrationsvertrags. Jetzt zieht die AOK Baden-Württemberg die Reißleine. Grund dafür sind nicht nur Verwerfungen durch den Finanzausgleich zwischen den Kassen.

Florian StaeckVon Florian Staeck und Hauke GerlofHauke Gerlof Veröffentlicht:
Kerngebiet des Gesunden Kinzigtals: Altstadt von Haslach im Kinzigtal.  Martin Bildstein / euroluftbild.de / ZB / picture alliance

Kerngebiet des Gesunden Kinzigtals: Altstadt von Haslach im Kinzigtal. Martin Bildstein / euroluftbild.de / ZB / picture alliance

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Stuttgart. Der seit 2005 bestehende Integrationsvertrag zum Gesunden Kinzigtal wird von der AOK Baden-Württemberg zum 31. Dezember 2023 gekündigt. Der soll „aufgrund der veränderten politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen“ neu verhandelt und damit „zukunftssicher“ gemacht werden, sagte ein Sprecher der Landes-AOK der „Ärzte Zeitung“.

Der Vertrag der Kasse mit der Gesundes Kinzigtal GmbH gilt als Vorzeigemodell eines populationsorientierten Integrationsvertrags nach Paragraf 140a SGB V. Beteiligt sind zurzeit aber nur 28 Praxen, bei denen 8000 AOK-Versicherte eingeschrieben sind. In der Versorgungsregion leben aber 33.000 AOK-Versicherte.

Als Folge entstünden für die Kassen hohe Transaktionskosten im Verhältnis zu den vor Ort erbrachten Versorgungsleistungen, erläutert der AOK-Sprecher. Angesichts stagnierender oder rückläufiger Teilnehmerzahlen bei Versicherten und Ärzten seien „Vertragsanpassungen“ nötig.

Positiver Deckungsbeitrag

Bislang standen wirtschaftlich gesehen die Ampeln für das Integrationsmodell auf Grün. Denn entscheidend für den Versorgungserfolg ist aus Sicht der AOK der Deckungsbeitrag: Also die Summe der Zuweisungen, die sie aus dem Gesundheitsfonds für die Versicherten erhält, minus sämtlicher Leistungsausgaben. Hier hat sich im Jahr 2019 für das Gesunde Kinzigtal-Kollektiv ein positiver Deckungsbeitrag von 4,3 Millionen Euro ergeben – Zahlen für das vergangene Jahr lägen noch nicht vor, so der AOK-Sprecher.

Da jedoch auch in anderen Regionen Baden-Württembergs nach Angaben der Kasse vergleichbar positive Ergebnisse erwirtschaftet würden, stelle sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Integrationsvertrag und Deckungsbeitrag. Erfahrung der AOK sei, dass „die dauerhafte Übertragung einer auch ökonomischen populationsorientierten Versorgungsverantwortung auf eine kosten- und administrationsintensive Managementgesellschaft allein noch nicht als (...) Blaupause zukünftiger regionaler Versorgungsgestaltung taugt“, so die AOK.

Diese Spitze zielt auf die Vertragskonstruktion der Gesundes Kinzigtal GmbH. Denn diese Gesellschaft ist eine Gemeinschaftsgründung des Medizinischen Qualitätsnetzes – Ärzteinitiative Kinzigtal (MQNK) und der in Hamburg ansässigen Managementgesellschaft OptiMedis AG.

Regionalfaktor bremst den Erfolg

Offenbar will die Kasse einen direkteren Zugriff auf die regionalen Vertragspartner. Die Versorgungsgestaltung müsse „tagtäglich gemeinsam zwischen Krankenkassen und Versorgungsbeteiligten vor Ort“ organisiert werden, mahnt die AOK.

Belastet wird die Kooperation zusätzlich durch den neuen Regionalfaktor im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA), der mit dem Faire-Kassenwettbewerb-Gesetz (GKV-FKG) erstmals ab 2021 in den Finanzausgleich einfließt. Denn bisher wurden unterschiedlich hohe Kosten bei der Versorgung der Versicherten im Morbi-RSA nicht berücksichtigt. Nach Darstellung der AOK bedeutet diese neue Systematik das „Aus“ für das bisherige ökonomische Vertragsmodell.

Im Gespräch mit der „Ärzte Zeitung“ wird Optimedis-Vorstand Dr. Helmut Hildebrandt konkreter und beklagt „perverse Anreize im RSA, nicht in Prävention zu investieren“. Als Beispiel führte er das Eintrittsalter für die Pflegebedürftigkeit an. Im Gesunden Kinzigtal sei es durch gute Aufklärung und bessere Versorgung der Patienten gelungen, die Progression chronischer Erkrankungen zu verlangsamen.

Morbidität gesunken – weniger Zuweisungen

Die Folge: In den vergangenen acht Jahren seien Patienten im Kinzigtal im Durchschnitt erst mit 74 Jahren pflegebedürftig geworden, eine Verbesserung um drei Jahre im Vergleich zum gesamtdeutschen Durchschnitt. „Wir haben in die Versorgung investiert, aber der Nutzen entsteht nicht, weil die Morbidität sinkt und daher der Morbi-RSA gekürzt wird“, ärgert sich Hildebrandt. Die Vertragspartner wollen nach Aussage des Optimedis-Vorstands nun neu über das Vertragsmodell verhandeln.

Das bestätigt die AOK: Es sei das „erklärte Ziel“, mit dem Ärztenetz MQNK und der Gesunde Kinzigtal GmbH eine neue Vertragsgrundlage zu finden. Diese müsse den „veränderten Rahmenbedingungen“ Rechnung tragen und die hohe Präventionsorientierung im Vertrag erhalten.

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