Hessen

Gesundheitsämter sind mit Corona-Nachverfolgung überfordert

Hessische Gesundheitsämter geraten bei der Nachverfolgung von Corona-Infektionsketten an ihre Grenzen. Ein erheblicher Anteil der Ansteckungen lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Ist die Strategie noch richtig?

Von Göran Gehlen Veröffentlicht:
Die Kontakt-Nachverfolgung im Gesundheitsamt wird immer schwieriger.

Die Kontakt-Nachverfolgung im Gesundheitsamt wird immer schwieriger.

© Bernd Wüstneck/dpa

Frankfurt. Angesichts der hohen Belastung der Gesundheitsämter in Hessen stellt der Verband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes die Strategie der Nachverfolgung von Corona-Infektionsketten infrage.

„Letzten Endes jagen Politiker noch der Idee nach, alle symptomlosen Träger aufspüren zu können“, sagt Landesvorstand Jürgen Krahn. Dabei sei die Frage: „Ist es sinnvoll, allen Verdachtsfällen nachzujagen oder wenden wir uns den kranken Leuten zu? Verbrennen wir weiter Laborkapazitäten oder schalten wir langsam in den Modus medizinischer Vernunft um und kümmern uns um die Infizierten/Kranken und Schutzbedürftigen?“

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht im Umgang mit Pandemien drei Phasen vor: Eindämmung (Containment), bei zunehmender Verbreitung die zweite Phase Schutz (Protection) von Risikogruppen und als letztes Folgeminderung (Mitigation).

„Solange die Politik aufrechterhält, dass wir uns immer noch in der ersten Phase befinden, ist das intensive Ermitteln aller Kontaktpersonen in Bezug auf COVID-19 alternativlos“, erklärt Krahn. Doch diese Phase hätte man seit „drei bis vier Monaten“ verlassen können.

Keine Nachvollziehbarkeit in dreiviertel der Wiesbadener Fälle

Hessens Gesundheitsämter kommen angesichts deutlich steigender Infektionszahlen an ihre Grenzen. Bei größeren Ausbrüchen – beispielsweise auf privaten Feiern – lassen sich Infektionsketten noch nachvollziehen, bei vielen Einzelfällen dagegen kaum. „Viele der Infektionen sind auf das familiäre Umfeld oder den Freundeskreis zurückzuführen“, sagt ein Sprecher der Stadt Wiesbaden.

Bei der Mehrheit der Fälle sei der Ort oder Anlass der Infektion aber nicht nachvollziehbar. Seit Ende September betreffe das 76 Prozent der gemeldeten Fälle. Allerdings werde in einigen noch ermittelt. Die Corona-Warn-App könne helfen, werde jedoch nicht ausreichend genutzt.

„Wenn die an COVID-19 Erkrankten von uns zu möglichen Infektionsquellen befragt werden, sind die Angaben oft vage“, erklärt ein Sprecher der Stadt Frankfurt. Auch verliefen Infektionen nicht selten ohne Symptome, was die Identifikation von Infektionsquellen erschwere.

Abseits größerer Infektionsherde sei es in Frankfurt im Allgemeinen „in weniger als 50 Prozent der gemeldeten Fälle möglich, eine Person oder Situation zu definieren, von der die Infektion ausging“. Gut nachvollziehbar seien Erkrankungen bei Personen, die fünf bis sieben Tage nach dem Kontakt zu Erkrankten getestet würden.

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Viele Kontakte vor der Quarantäne

Vergleichsweise gut steht Hessens größter Hotspot, die Stadt Offenbach, da: Nur bei 29,4 Prozent der Infektionen sei die Ansteckung nicht mehr nachvollziehbar. „Mittlerweile stellt sich bei positiv Getesteten häufig heraus, dass sie in der vorangegangenen Zeit, in der sie vermutlich ansteckend außerhalb der Quarantäne unterwegs waren, sehr viele Kontakte hatten“, sagt ein Sprecher. Die Ermittlungsquote sei zudem abhängig von der Bereitschaft, genaue Auskünfte zu geben und vom Erinnerungsvermögen.

Der Landkreis Marburg-Biedenkopf erklärt, dass bei bestätigten COVID-19-Infektionen in den vergangenen 14 Tagen in rund 36 Prozent der Fälle kein Kontext ermittelbar war. „Allerdings liegen hier insbesondere wegen der hohen Fallzahlen der zurückliegenden Tage noch keine abschließenden Erkenntnisse vor“, sagte ein Sprecher.

Der Kreis Groß-Gerau nennt keine Zahlen, sondern erklärt, dass man bei einem „großen Teil“ der Fälle, die sich außerhalb eines Haushalts infizierten, keine Quelle ermitteln könne.

„Die Lösung ist nicht: Testen bis zum Anschlag“

Ob es angesichts dieser Situation Sinn macht, die Kapazitäten der Gesundheitsämter zu verwenden, Kontaktpersonen zu ermitteln und zu testen, ist umstritten. „Die Lösung ist nicht: Testen bis zum Anschlag“, sagt Jürgen Krahn. Denn auch das Land habe nur begrenzte Mittel. Das Geschehen in den Gesundheitsämtern sei bei der Bekämpfung der Pandemie entscheidend.

„Aufgrund der pandemischen Lage seit Beginn des Jahres und aktuell steigender Infektionszahlen sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gesundheitsämter dauerhaft stark belastet“, sagt eine Sprecherin des Sozialministeriums in Wiesbaden. Die Nachverfolgung von Kontaktpersonen durch die Gesundheitsämter habe Priorität.

Dafür würden andere Aufgaben zurückgestellt und Personal aus anderen Bereichen der Verwaltung hinzugezogen. In Frankfurt und Offenbach erhielten die Ämter derzeit bei der Nachverfolgung Unterstützung durch die Bundeswehr. (dpa)

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