Gastbeiträge
Polyypille als kardiovaskuläre Patentlösung? – ein Pro & Contra
Antihypertensiva können noch so gut sein, wenn die Adhärenzfehlt, fehlt auch die Wirkung. Eine Polypille, die aus mehreren Wirkstoffenbesteht, soll die Therapietreue verbessern. Doch ist die Anwendungwirklich so einfach? Zwei Gastbeiträge von Professor Timm H. Westhoff und Dr. Alexander Reshetnik.
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Eingeschränkt in der Flexibilität
Bei der Anwendung von Kombipräparaten sollten einige Limitationen beachtet werden. Auch ist die positive Wirkung der Polypille nicht auf alle Kollektive übertragbar.
Arterieller Hypertonus ist eine der bedeutendsten kardiovaskulären Risikoerkrankungen. Der arterielle Hypertonus ist hochprävalent. Er betrifft mehr als eine Milliarde Patient:innen weltweit. Fast jede dritte Person in Deutschland leidet an arteriellem Hypertonus. In der Population der über 60-Jährigen ist es sogar jede zweite Person. Erfolgreiche Hypertoniebehandlung hat damit enormen Einfluss auf die kardiovaskuläre Gesundheit.
Heutzutage verfügen wir über einige wirksame Antihypertensiva, die auch gut verträglich sind. Allerdings ist die Symptomlast des arteriellen Hypertonus häufig sehr gering und die Tragweite des negativen Einflusses auf das kardiovaskuläre System den Patient:innen oft nicht bewusst. Deshalb ist die ausreichende Therapieadhärenz in der Hypertonusbehandlung ein großes Thema.
Die Anwendung der Polypill wird als eine wirksame Strategie zur Adhärenzverbesserung von der aktuellen Leitlinie der Europäischen Hypertoniegesellschaft sowie von der nationalen Versorgungsleitlinie ausdrücklich befürwortet. Während die Sinnhaftigkeit der Medikamentenkombination in einer Tablette ohne Frage gegeben ist, gibt es bestimmte Limitationen in der Anwendung, die bedacht werden sollten.
Die verfügbaren Polypill-Produkte enthalten fixe Dosierungen der einzelnen Komponenten. Damit ist die Flexibilität bei der Steigerung einzelner Komponenten deutlich eingeschränkt. Wenn man beispielsweise bei der Polypill ExforgeHCT® 10/160/12,5 mg die Dosis des Thiaziddiuretikum Hydrochlorothiazid (HCT) auf 25 mg steigern möchte, so ist das nur als Polypill möglich, wenn auch das Valsartan auf 320 mg erhöht wird. Die einzige verfügbare Variante ist ExforgeHCT® 10/320/25 mg.
Auch ist die Auswahl der als Polypill verfügbaren Wirkstoffe und deren verfügbare Fixdosiskombinationen limitiert. Thiazididuretikum Chlorthalidon gibt es beispielsweise in Polypill-Form nur als Kombination mit Betablocker oder mit Betablocker und Hydralazin.
Fokussierte Therapieeskalation einer Erkrankung ist schwierig
Immer häufiger kommt die Polypill-Variante vor, in der Wirkstoffe kombiniert werden, die unterschiedliche Therapieindikationen abdecken. Es wird zum Beispiel Acetylsalicylsäure mit einem Statin und einem Antihypertensivum kombiniert, um so eine möglichst umfassende kardiovaskuläre Nachsorge zu gewährleisten. In dieser Konstellation geht fokussierte Therapieeskalation einer Erkrankung (zum Beispiel strengere Einstellung der Hypercholesterinämie) unter Umständen nur damit einher, dass die Dosis anderer Komponenten (zum Beispiel Antihypertensivum) erhöht wird. Damit werden für die bessere Einstellung einer Erkrankung eventuelle Nebenwirkungen wie zu niedriger Blutdruck in Kauf genommen.
Außerdem ist die evidenzbasierte positive Wirkung der Polypill nicht auf alle Kollektive übertragbar. Beispielsweise wurden vorherige Studien zu kardiovaskulären Polypills in finanziell Unterprivilegierten oder in der Bevölkerung aus Niedriglohnländern oder Ländern mit mittlerem Einkommen durchgeführt. Der Effekt ist damit nicht exakt auf das deutsche Gesundheitssystem übertragbar.
Manche Kollektive profitieren nicht von der Polypill-Therapie. So konnte die TIPS-3 Studie zeigen, dass bei den Patienten im Alter von ≥ 65 Jahren und intermediärem kardiovaskulärem Risiko die Anwendung der Polypill (Antihypertensivum/Statin) kein Benefit hinsichtlich kognitiver Leistung im Vergleich zu der Gabe einzelner Komponenten bringt. Besondere Vorsicht ist für Populationen wie Schwangere und Kinder geboten, da hier manche Polypill-Komponenten kontraindiziert sind.
Erstattungsprobleme sind möglich
Abschließend sind auch finanzielle Aspekte zu bedenken. Der Preis für manche Polypill ist höher als für die jeweiligen Wirkstoffe einzeln, was ggf. zu Erstattungsproblemen führen kann. Deshalb werden die Kombinationspräparate nicht so gern verschrieben.
Insgesamt sollte bei der Polypille bedacht werden, dass die fixe Dosierung der darin enthaltenen Wirkstoffe eine Therapieanpassung erschweren kann. Gleichzeitig ist die Auswahl der Präparate mit unterschiedlichen Dosierungen derzeit limitiert. Einige Studien konnten die Wirksamkeit der Polypille zwar zeigen, doch sind diese Studienergebnisse zum Teil nicht auf das deutsche Gesundheitssystem übertragbar. Auch sollten noch andere Patientengruppen wie Schwangere oder Kinder berücksichtigt werden – für sie sind manche Wirkstoffe der Polypille sogar kontraindiziert. Und dann bleibt noch die Frage, wie die höheren Kosten getragen werden sollen: Denn die Einzelsubstanzen der Polypille sind günstiger als die Polypille selbst.
Lesen Sie hier die Gegenargumente.
Evidenzbasiert und einfach implementierbar
Die kardiovaskuläre Polypille ist ein vielversprechendes Mittel, um die Adhärenz zu steigern – und kann nachweislich Ereignisse und Todesfälle verhindern.
Die arterielle Hypertonie und das LDL-Cholesterin sind die beiden wichtigsten Risikofaktoren für kardiovaskuläre Ereignisse. Trotz mannigfaltiger medikamentöser Therapieoptionen sind jedoch lediglich 20 Prozent aller Patienten mit einer koronaren Herzerkrankung und nur circa die Hälfte aller Hypertoniker in Deutschland mit ihrem LDL-Cholesterin bzw. Blutdruck im Zielbereich.
Eine zentrale Ursache für diesen Missstand ist eine unzureichende Adhärenz. Bei der (scheinbar) therapieresistenten Hypertonie zeigte sich in einer großen Studie, dass 80 Prozent der Untersuchten entweder gar keine oder nicht alle Antihypertensiva einnahmen. Es besteht daher ein dringender Bedarf an neuen Wegen zur Steigerung der Adhärenz. Die sogenannte „Polypille“ ist in diesem Kontext ein vielversprechendes Mittel.
In der Bluthochdrucktherapie werden Kombinationspräparate längst von den Leitlinien als Standardtherapie empfohlen. Die Datenlage ist eindeutig: Je weniger Tabletten, desto höher die Adhärenz und desto besser die Blutdruckeinstellung. Die Einnahmetreue nimmt mit jeder zusätzlichen Tablette ab.
Viele Tablette einzunehmen verunsichert
Die Erklärung für dieses Phänomen ist vielschichtig: Zum einen birgt naturgemäß eine geringere Tablettenlast auch ein geringeres Risiko, Tabletten zu vergessen. Zum anderen führt eine hohe Anzahl an Tabletten zu einer Verunsicherung des Patienten: Er fühlt sich kränker, „stigmatisierter“. Die Medikamenteneinnahme ist zunehmend negativ besetzt. Ferner nimmt die Angst vor Nebenwirkungen und Interaktionen zwischen den Medikamenten mit jeder weiteren Tablette zu. „So viel Chemie kann nicht gut für meinen Körper sein.“
Ein Kombinationspräparat birgt hier psychologische Vorteile: Wir haben schlichtweg das Gefühl einer geringeren Medikamentenlast. Interessanterweise ist die blutdrucksenkende Wirkung eines Kombinationspräparates tatsächlich effektiver als die Einnahme der einzelnen Präparate. Auch sind die dosisabhängigen Nebenwirkungen eines Antihypertensivums bei einem Kombipräparat mit niedrig dosierten Einzelsubstanzen geringer als bei ausdosierten Einzelpräparaten. Auch Nebenwirkungen, die auf den Noceboeffekt zurückzuführen sind, sind seltener.
Das Konzept der antihypertensiven Polypille lässt sich noch weiter denken: Warum nicht die Blutdrucksenkung mit einer Cholesterinsenkung und ggf. einer Thrombozytenaggregationshemmung kombinieren? Ursprünglich ist dieses Konzept insbesondere mit Blick auf ärmere Länder mit schlechterer Gesundheitsversorgung konzipiert worden.
Doch auch für uns birgt es ein großes Potenzial. Nach einem Herzinfarkt muss der Betroffene leitliniengemäß mindestens fünf unterschiedliche Substanzgruppen einnehmen: ein Statin, zwei unterschiedliche Thrombozytenaggregationshemmer, einen RAAS-Inhibitor und einen Betablocker. Auch wenn in dieser Situation der Schrecken über das Erlebte häufig groß ist und die Einnahmetreue zu Beginn noch hoch ist, so nimmt diese bereits im ersten Jahr nach dem Infarkt deutlich ab. In einer kürzlich publizierten Arbeit nahmen nach einem Jahr gerade einmal noch 29 Prozent der Infarktpatienten den RAAS-Inhibitor, das Statin und den P2Y12 Hemmer wie verordnet ein.
Die erste in Deutschland zugelassene kardiovaskuläre Polypille war 2015 Sincronium® mit den Inhaltsstoffen ASS, Atorvastatin und Ramipril. Während ASS (100 mg) und Atorvastatin (20 mg) fix dosiert waren, war die Dosis von Ramipril zwischen 2,5 und 10 mg variabel. Andere Polypillen, wie Triveram®, verzichten auf einen Thrombozytenaggregationshemmer und kombinieren zwei Antihypertensiva (Amlodipin, Perindopril) mit Atorvastatin.
Polypille nützt wohl auch in der Sekundärprävention
Das Konzept der kardiovaskulären Polypille ist mittlerweile gut untersucht. Für die Primärprävention gibt es bereits seit etlichen Jahren eine gute Evidenz. Studien wie PolyIran und TIPS-3 haben einen signifikanten prognostischen Vorteil gezeigt. Für die Sekundärprävention stand der Wirksamkeitsnachweis über viele Jahre aus. Diese Lücke ist nun aber durch die SECURE-Studie geschlossen worden.
SECURE ist eine Sekundärpräventionsstudie, die Patienten mit durchgemachtem Herzinfarkt untersuchte. Die Patienten erhielten entweder eine Polypille aus ASS, Atorvastatin und Ramipril oder eine medikamentöse Standardtherapie nach Leitlinienempfehlungen. Die Polypille war mit einer 24-prozentigen Risikoreduktion für kardiovaskuläre Ereignisse assoziiert.Die Polypille steigerte im Vergleich zu einer Kombinationstherapie mit den Einzelsubstanzen nicht nur die Adhärenz, sondern reduziert auch harte kardiovaskuläre Endpunkte. Die Autoren der Studie führten einige Hochrechnungen durch und gingen davon aus, dass bereits bei einer 50-prozentigen Umsetzung der Polypillenstrategie jährlich zwei Millionen Todesfälle und vier Millionen kardiovaskuläre Ereignisse verhindert würden.
In den kommenden Jahren wird der Bedarf an klug zusammengestellten Kombinationspräparaten weiter steigen. Denken wir nur an die Herzinsuffizienztherapie: Die „fantastischen Vier“ aus RAAS-Inhibitor, Mineralokortikoidrezeptorantagonist (MRA), Betablocker und SGLT2-Hemmer sind Therapiestandard geworden und sollten so rasch wie irgend möglich initiiert werden. Halten Sie sich nun noch vor Augen, dass RAAS-I und MRA häufig in zwei Einzeldosen eingesetzt werden. Dann liegen wir hier bereits bei sechs Tabletten, ohne dass wir über ASS, Schleifendiuretika, ein Statin, andere Antihypertensiva oder Antidiabetika gesprochen haben.
Ich bin überzeugt davon, dass wir zeitnah erste Kombinationspräparate, zum Beispiel aus SGLT2-Hemmern und MRA oder Aldosteronsynthasehemmern sehen werden. Eine „Herzinsuffizienzpolypille“ in verschiedenen Wirkstärken würde die Versorgungssituation unserer Herzinsuffizienzpatienten sicher verbessern.
Für wen die Polypille geeignet ist
Die Polypille ist ein evidenzbasiertes, einfach implementierbares Konzept. Trotzdem ist es nicht notwendig, alle unsere Patienten nur noch so zu behandeln. Wer kein Adhärenzproblem hat, erfährt auch keinen Mehrwert durch eine Polypille. Liegt aber ein Adhärenzproblem vor, so sollte Gebrauch von diesem Konzept gemacht werden. Zudem profitieren auch Patienten mit einer hohen Sensibilität gegenüber subjektiv empfundenen Nebenwirkungen und Patienten mit Polypharmazie von der Therapie. Müsste ich bereits mehrere verschiedene kardiovaskuläre Medikamente einnehmen, würde ich mich schon aus Komfortgründen für ein Kombinationspräparat entscheiden.
Gibt es tragende Gegenargumente? Die Kosten eines Kombinationspräparates sind in der Tat höher als die der Einzelpräparate, würden aber durch die Einsparungen, durch die verhinderten kardiovaskulären Ereignisse, volkswirtschaftlich überkompensiert werden. Ein weiteres Gegenargument wäre eine unzureichende Möglichkeit zur Dosistitration. Wir leben sowohl in der Hypertonie- als auch der Cholesterin-senkenden Therapie nicht mehr in einer „Fire and Forget-“ sondern einer „Treat to Target-Ära“. Polypillen wie Triveram® werden aber bereits in verschiedenen Wirkstärken der Einzelsubstanzen angeboten. Hier brauchen wir auch zukünftig ein möglichst breites Dosisportfolio. Wünschenswert wäre ferner die regelhafte Teilbarkeit dieser Tabletten, um eine vorsichtige Eindosierung vornehmen zu können. Die kardiovaskuläre Polypille muss ferner mit (Sekundärprävention) und ohne (Primärprävention) ASS verfügbar sein.
Die kardiovaskuläre Polypille ist ein Konzept, das weit über einen reinen „Bequemlichkeitsgedanken“ hinausgeht. Es steigert die Therapietreue, reduziert die wahrgenommenen Nebenwirkungen, ist effektiver als die Nutzung der Einzelsubstanzen und hat in der SECURE-Studie gezeigt, dass es kardiovaskuläre Ereignisse und Todesfälle verhindern kann. Wir wären schlecht beraten, wenn wir unseren Patienten diese Möglichkeit vorenthielten. Es wird Zeit, dieses etablierte Konzept in Deutschland vermehrt zu nutzen.
Lesen Sie hier die Gegenargumente.
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