Die Charité und der real existierende Sozialismus

Die Charité hat sich auf den langen Marsch gemacht, ihre Rolle in der Gesellschaft der Deutschen Demokratischen Republik aufzuarbeiten. Im Berliner Abgeordnetenhaus ist eine Ausstellung eröffnet worden.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:
Grenzanlagen mit der Charité im Hintergrund, 1990.

Grenzanlagen mit der Charité im Hintergrund, 1990.

© Christian Klopf

BERLIN. Es ist kein Zufall, dass die Ausstellung "Die Charité zwischen Ost und West (1945 - 1992) Zeitzeugen erinnern sich" nicht auf dem Gelände des Berliner Gigaklinikums selbst zu sehen ist. Dort ist die Distanz zu den Ereignissen vor 1990 am geringsten. Die Berufsbiografien vieler Ärzte und Mitarbeiter der Charité weisen ein Davor und ein Danach auf.

"Alle Beteiligten wissen es besser als wir", übt sich Thomas Schnalke vom Berliner Medizinhistorischen Museums der Charité in Sarkasmus. "Wir können für diese Ausstellung nur Prügel beziehen".

Der erwarteten Kritik an der subjektiven Perspektive stellen sich die Ausstellungsmacher Schnalke und Professor Volker Hess vom Institut für Geschichte der Medizin der Charité im politischen Raum, genauer in der Wandelhalle des Berliner Abgeordnetenhauses.

Dort erwartet den Besucher an acht Stationen eine Fülle von Texten, Bildern und Dokumenten zum Alltag der Forscher, Ärzte, des Pflege- und Verwaltungspersonals, zur geografischen Lage der Charité unmittelbar am Eisernen Vorhang, zur Ökonomie - Honecker selbst kümmerte sich 1989 um Verbandsmaterial -, zur Rolle in der Gesundheitspolitik der DDR, zur Forschung und Lehre sowie zu den Stasiaktivitäten in Europas größter Klinik.

Interviews mit 26 Zeitzeugen

Vorlesung in der Uni-Frauenklinik, undatiertes Bild.

Vorlesung in der Uni-Frauenklinik, undatiertes Bild.

© Sammlung Hofer

Es ist eine Leseausstellung, und eine zum Hinhören. Von der 1922 in Königsberg geborenen Krankenschwester Irene Hofer bis zum 1986 wegen Wehrdienstverweigerung von der Charité gefeuerten Studenten Martin K. berichten 26 Zeitzeugen in Audiobeiträgen über ihre Zeit an der Charité. Studierende der Universität der Künste haben Teile der Interviews zu Toncollagen montiert, die die Widersprüche jeder mündlichen Überlieferung offen legen. Die Erinnerung ist vielfältig, die Perspektiven unterschiedlich und eigenes Erleben hat sich über die Jahre mit über die Medien verbreiteten Informationen und Wunschdenken vermischt. Bei den ehemaligen Charité-Mitarbeitern gilt dies zum Beispiel für die Angst vor dem Verlust eines positiv erinnerten DDR-Alltags und damit der eigenen Biografie.

Zentral bei den befragten Zeitzeugen ist die Erinnerung an den Umgang mit der Diktatur. "Die eigene Positionierung innerhalb oder außerhalb des Systems wird in all ihren Abstufungen zum tragenden, argumentativ leitenden und gleichwohl schwierigsten Moment der Erzählungen", heißt es in einem Begleittext zur Ausstellung.

Hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter fehlen

Die Kuratoren Rainer Herrn und Laura Hottenrott haben darauf geachtet, ein breites Mitarbeiterspektrum abzubilden. Eine Gruppe jedoch fehlt. Es sind die sechs hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit und die etwa 80 informellen Mitarbeiter. Keine Berührungsängste mit der Geschichtsforschung zeigt jedoch der Urologe Professor Moritz Mebel, der in der DDR das Nierentransplantationswesen aufbaute und bis ins Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) aufstieg. Die DDR investierte große Summen in die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Charité. Viele ihrer Wissenschaftler durften als Reisekader ihr medizinisches Wissen im kapitalistischen Ausland auf dem neuesten Stand halten.

Politik war zu DDR-Zeiten allgegenwärtig auf dem Campus. Ein eigener Zug von Grenzhelfern hatte Fluchtverdächtige zu melden. Die Mitarbeiter verfügten schließlich über Ortskenntnisse. Außerdem galt der SED das Haus als reaktionär. Von den 175 Ärzten und 530 Schwestern, die 1946 dort beschäftigt waren, waren gerade 30 in der Partei. Kurz vor dem Mauerbau "machten" noch 180 Ärzte in den Westen, manche Stationen liefen nur noch im Notbetrieb.

Als die Mauer fiel, waren 65 Prozent der Professoren und praktisch alle Institutsleiter Parteigenossen. In der ärztlichen Belegschaft hatte sich der Widerstand gegen die Einflussnahme der Partei auf die Gesundheitspolitik erhalten. Nur 14 Prozent der Ärzte waren dem Ruf der Partei erlegen.

Das erklärt das Misstrauen der Stasi in der Charité, die alle Hierarchieebenen infizierte. Wozu die Stasi die gesammelten Informationen genau brauchte, wird noch erforscht. So schrecklich das Überwachungssystem gewesen sein muss. Es sorgte für einen späten Lacher. Als Ordinarius für Innere Medizin hatte der 1963 gestorbene Theodor Brugsch noch erklärt, erst im Sozialismus habe die vorbeugende Gesundheitsfürsorge die höchste Stufe des Humanismus erreicht. Die Charité ehrte ihn, indem sie nach seinem Tod eine Bronzebüste von Brugsch in einem Besprechungsraum aufstellen ließ. Im Jahr 2000 fand man im Kopf des Kunstwerks eine vergessene Stasi-Wanze.

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