Panorama

Die Nacht des Mauerfalls verschlafen

Die Medizinstudentin hörte erst nach dem Aufwachen im Zug nach Dresden von dem dramatischen Ereignis.

Sven EichstädtVon Sven Eichstädt Veröffentlicht:
Dr. Uta Katharina Schmidt-Göhrich war  1989 Medizinstudentin an der Berliner Charité und Humboldt-Universität.

Dr. Uta Katharina Schmidt-Göhrich war 1989 Medizinstudentin an der Berliner Charité und Humboldt-Universität.

© Sven Eichstädt

Die Nacht des Falls der Berliner Mauer hat Uta Katharina Schmidt-Göhrich verschlafen. Die damals 19 Jahre alte Medizinstudentin setzte sich am 9. November 1989, einem Donnerstag, gegen 19 Uhr in einen Zug der Deutschen Reichsbahn und fuhr von Berlin nach Dresden. Sie hatte am Freitag frei und wollte zu Hause in Kreischa bei Dresden entspannen.

Das tat sie dann auch und hörte nach dem Aufwachen zunächst ungläubig im Deutschlandfunk, dass die Grenzen in Berlin und zur Bundesrepublik offenstanden: Während sie nach Dresden gefahren war, hatte SED-Zentralkomitee-Mitglied Günter Schabowski bei einer Pressekonferenz in Berlin die Öffnung der Grenzen verkündet: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“

Freudengefühl und Gänsehaut

Da Schmidt-Göhrich auf jeden Fall nach einem Besuch in West-Berlin zurück in die DDR wollte, fuhr sie zunächst von Kreischa nach Dresden zur Schießgasse zur Volkspolizei und ließ sich die Erlaubnis dafür in den DDR-Personalausweis eintragen: Damals gab es die Angst, dass die DDR ihre Bürger ohne einen solchen Vermerk im Ausweis zwar nach Westberlin und die Bundesrepublik lassen werde, aber nicht wieder zurück in die DDR.

Das Wochenende verbrachte sie dann im Westteil Berlins: „Ich verspürte ein Freudengefühl und hatte Gänsehaut, ich habe es einfach genossen“, erinnert sich Schmidt-Göhrich, die inzwischen als Hausärztin und Mitarbeiterin am Lehrstuhl Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Dresden arbeitet. „Es bleibt eine sehr wichtige Erfahrung, die ich wahrscheinlich mein ganzes Leben nicht vergessen werde, wenn Mauern einstürzen und Grenzen aufgehen, welches Glücksgefühl dies bei mir auslöst.“

Schon in den Monaten vor dem Mauerfall hatte Schmidt-Göhrich die Ereignisse in Berlin und Dresden miterlebt: Sie war selbst politisch aktiv. Ihr war zunächst nach ihrem Einser-Abitur in Freital bei Dresden unter der Hand gesagt worden, dass sie trotz der guten Noten keine Zulassung zum Medizinstudium erhalten werde, weil sie als politisch unzuverlässig gelte. Damit war unter anderem gemeint, dass sie in der evangelischen Kirche aktiv war.

Noch keine Einmalhandschuhe üblich

Sie hatte allerdings Glück, dass damals ein Modellstudiengang an der Medizinischen Akademie Dresden eingerichtet wurde, bei dem sie zur Berliner Charité und Humboldt-Universität delegiert wurde. Der Studiengang enthielt deutlich weniger Stunden Marxismus-Leninismus als bisher und begann im Herbst 1988.

Einsätze in den Herbstferien für die Studenten bei der Apfelernte in Groß Kreutz bei Potsdam gehörten dazu. „Als Studentin arbeitete ich in der Zentralen Handschuhwäscherei der Charité, damals waren noch keine Einmalhandschuhe üblich“, erinnert sie sich.

Diese Kenntnisse kamen ihr in Tansania zugute, als sie 1993 ihr Praktisches Jahr auf zwei Jahre verlängerte und es im Ausland absolvierte: Außer in Tansania auch in der Schweiz.

Personalmangel im DDR-Gesundheitswesen

Während des Studiums fiel ihr ein „eklatanter Personalmangel“ im Gesundheitswesen der DDR auf: „Der Ärztemangel von heute ist kein Vergleich dagegen.“ In ihrer Seminargruppe wurde sie zur Kulturfunktionärin gewählt: „Ich war nicht so widerständig, dass ich nicht in der FDJ war“, erinnert sie sich. „Ich wurde nie gefragt, ob ich in die Partei eintreten will, das war mein Glück.“ Die FDJ war die Jugendorganisation der DDR, der Ausdruck Partei stand allgemein für die SED.

Sie engagierte sich in der Umweltbibliothek und Zionskirche in Berlin, wo oppositionelle Gruppen in den 1980er Jahren Raum fanden. „Ich würde nicht sagen, dass ich die allergrößte Aktivistin war, aber ich verteilte regelmäßig Flugblätter.“ Zwei Ereignisse verdeutlichten ihr, wie gefährlich die Situation war: Die Bilder der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 und der Demonstrationen in Peking im Juni 1989.

„Als ich am 3. Oktober 1989 die Probe der Militärparade in Berlin für den 40. Jahrestag der DDR vier Tage später sah, fand ich dies sehr beängstigend und es erinnerte mich an die Ereignisse in Peking im Juni 1989.“ Zuvor war sie im Sommer 1989 nach ihrem Urlaub in Bulgarien über Ungarn zurück in die DDR gefahren, ab Budapest blieben Abteile im Zug erstmals leer: Ungarn hatte seine Grenzen nach Österreich geöffnet. „Das war ein ganz beklemmendes Gefühl, dass so viele Leute gehen wollten in dem Moment, wo ich den Eindruck hatte, dass sich etwas ändert.“

Brief an Honecker geschrieben

Im September 1989 schrieb sie im Alter von 19 Jahren einen Brief an Staats- und Parteichef Erich Honecker, was eine Antwort des stellvertretenden Hochschulministers und dessen Besuch in ihrer Seminargruppe zur Folge hatte. „Wir nahmen in der Diskussion kein Blatt vor den Mund“, erinnert sich Schmidt-Göhrich. Es sollte noch weitere Gespräche mit ihm geben, doch dazu kam es nicht mehr. „Das System war so morsch, dass es nur noch eines Auslösers bedurfte, und es bröselte zusammen.“

Am 4. Oktober fuhr sie mit dem Zug von Berlin nach Dresden, wo ihr am Hauptbahnhof ein riesiges Aufgebot an Volkspolizei gegenüberstand. Der Grund lag in der Fahrt von Zügen mit Flüchtlingen aus der Prager Botschaft über Dresden in die Bundesrepublik. „Dort bekam ich das erste Mal in meinem Leben einen Gummiknüppel der Polizei zu spüren.“ Sie hatte Glück, ihre dicken Anatomiebücher auf dem Rücken milderten die Schläge zumindest etwas.

Im November 1989 kam sie durch Zufall in eine Kommission, die die Einsätze der Volkspolizei am 7. Oktober 1989 aufarbeiten sollte. „Da saß ich als kleine Studentin mit großen Augen mit Christa Wolf, Jens Reich und Stefan Heym und war beeindruckt“, erinnert sie sich. „Das war zu der Zeit, als es noch viele Ideen gab, was man mit diesem Land DDR Tolles machen kann.“

Sie heiratete später einen Mann aus Südbaden, einen „feinen Wessi“, wie sie sagt, und sieht ihre Familie als gelungenes Beispiel für eine Verständigung von Ost und West: Vor 25 Jahren lernten sie sich kennen, seit 16 Jahren sind sie verheiratet.

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