Interview mit Zeitzeugin

"Die Sargträger hatten Angst vor Ansteckung"

Vor 50 Jahren arbeitete Friederike Moos als Biologielaborantin in der Gewebekultur der Marburger Behringwerke und war beim Ausbruch des Virus‘ unmittelbar dabei. Später hat sie ein Buch über das Erlebte geschrieben. Im Interview mit der "Ärzte Zeitung" erzählt sie von den dramatischen Ereignissen.

Von Gesa Coordes Veröffentlicht:

Ärzte Zeitung: Frau Moos, vor 50 Jahren lag Ihre Abteilung im Zentrum der Infektionsgefahr. Wie war die Atmosphäre nach den ersten Krankheitsfällen?

Friederike Moos: Sehr still, ängstlich, abwartend und betreten. Als wir noch im Aufenthaltsraum zusammensaßen, haben wir kaum gesprochen. Wir haben gelesen. Und wenn dann jemand gesagt hat, dass er Kopfschmerzen hat, sind alle aufgesprungen und haben gesagt "Geh schnell zum Arzt und schau, was du hast".

Wie haben Sie weitergearbeitet?

FM: Zum Schluss war ich ganz alleine in dem Labor und alle waren weg. Ich hatte den Eindruck, dass ich vergessen wurde, weil ich noch in der Ausbildung war. Es gab nichts zu arbeiten. Ich saß da, habe gestrickt, Kreuzworträtsel gelöst und in mich hineingehört, ob ich jetzt Bauch- oder Kopfschmerzen oder sonst etwas habe.

Was war das Schlimmste?

FM: Lange Zeit wusste ich nicht, ob ich noch krank werde oder nicht. Man muss sich vorstellen, dass die Krankheit ganz unbekannt war und dass ein Dutzend Kollegen in der Klinik lagen. Ich war so verzweifelt und durchgedreht, dass ich irgendwann gedacht habe, dass ich lieber krank werden wollte, als diese Ungewissheit länger auszuhalten.

Und dann waren da natürlich diese Todesfälle. Das waren alles Menschen, die ich kannte. Darunter ein Vater mit sieben Kindern. Das ist mir persönlich sehr nahe gegangen.

Warum haben Sie sich nicht angesteckt?

FM: Weil eine schwangere Kollegin in Mutterschutz ging, habe ich mich mehr um Planung, Qualitätskontrolle und Protokollführung gekümmert. Deshalb habe ich in dieser Phase nicht in der Spülküche gearbeitet. Das war der Ort, an dem sich meine direkten Kollegen infiziert haben.

Die Labore waren ja alle hochsteril – nicht wegen uns, sondern wegen der Gewebekulturen. Aber in der Spülküche wurden eigentlich alle Sicherheitsmaßnahmen fallengelassen. So weit ich mich erinnere, haben wir die Gefäße ohne Mundschutz und Handschuhe gespült. Die ganze Sterilität diente nur der Gewebekultur, nicht den Beschäftigten.

Auch Ihr damaliger Chef wurde infiziert.

FM: Ja, das war ein wahnsinnig netter Mensch, so höflich und so zuvorkommend. Wir haben uns immer gefreut, wenn er kam. Er hatte aber Neurodermitis und Asthma. Er hat sich vermutlich bei Sektionen von Affen infiziert, von denen Stichproben genommen wurden. Später hieß es, dass er diese Arbeit bei seinen Vorerkrankungen nie hätte machen dürfen. Er ist am 3. September 1967 gestorben.

Wie ging es den Kranken?

FM: Damals habe ich das nur über die Presse und die Betriebsversammlungen bei den Behringwerken erfahren. Das fing relativ harmlos mit Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Gliederschmerzen an. Und dann entwickelte sich das in wenigen Tagen und Stunden zu einer sehr komplexen und dramatischen Krankheit. Die Menschen sind innerlich verblutet. Sie haben Blut aus der Haut geschwitzt. Und entweder war jemand so stark, dass er das überlebt hat, oder eben nicht.

Gab es Spätfolgen für die Überlebenden?

FM: Die meisten haben sich einigermaßen erholt. Ich hatte aber eine Kollegin, so alt wie ich, die hatte anschließend so starke Konzentrationsschwierigkeiten und Gedächtnisprobleme, dass sie ihre Arbeit aufgeben und keine Ausbildung mehr machen konnte. Sie konnte nicht mehr rechnen und hatte auch mit dem Schreiben Schwierigkeiten. Sie hat später als Reinemachfrau gearbeitet.

Wie haben die Menschen in der Stadt reagiert?

FM: Unterschiedlich. Manche waren sehr hilfsbereit. Da sind die Nachbarn eingesprungen, um die Kinder der Erkrankten zu betreuen. Einer Familie wurde Essen vor die Tür gestellt. Aber es gab auch andere Szenen. Manche Leute sind nicht mehr in den Bus gestiegen, wenn ich darin saß, weil sie wussten, dass ich bei den Behringwerken arbeite.

Auf keinen Fall haben sie sich neben mich gesetzt. Nach meiner letzten Prüfung hat mir kein einziger meiner Freunde die Hand gegeben. Alle hielten Abstand und klopften mir höchstens auf die Schulter. Und bei einer Beerdigung streiften die Sargträger ihre Handschuhe linksherum von den Händen, um sie mit spitzen Fingern ins Grab zu werfen.

Das war theatralisch, aber auch irgendwie verständlich. Man wusste nicht, wie man sich ansteckt. Die Menschen hatten Angst.

Sie sind ein Jahr später nach Freiburg gegangen, wo Sie weiter in ihrem Beruf tätig waren, drei Kinder bekommen haben und bis heute leben. Hatte ihr Weggang mit dem Marburg-Virus-Ausbruch zu tun?

FM: Zum Teil. Ich wollte zwar schon viel länger von zu Hause weg. Aber meine Mutter hätte mich normalerweise erst mit 21 Jahren – da war man damals volljährig - gehen lassen. Sie hat dann aber gesehen, dass ich psychisch gar nicht gut drauf war. Ich war völlig apathisch. Dass ich schon früher fortgehen konnte, hat mich sofort wieder lebendig gemacht.

Welche Erinnerungen haben Sie an die Übergangszeit?

FM: Ich wurde an eine andere Stelle versetzt. Aber ich kann mich nicht erinnern, was ich da gearbeitet habe. Meine Erinnerung hat völlig ausgesetzt. Ich weiß nicht, was ich in diesem Jahr gemacht habe, welche Kollegen ich hatte und wie die Räumlichkeiten aussahen. Es ist einfach spurlos weg – ein schwarzes Loch.

Was war der Anlass, viele Jahre nach den Vorfällen ein Buch über das Marburg-Virus zu schreiben?

FM: Das war eine ganz außergewöhnliche Geschichte, die ich aber erst aufschreiben konnte, als ich in den Ruhestand gegangen bin. Dabei ging es mir vor allem um die persönlichen Schicksale, die vor 50 Jahren zu kurz gekommen sind. Für alle ehemaligen Patienten und ihre Angehörigen waren das einschneidende Erfahrungen.

Lesen Sie dazu auch: 50 Jahre Marburg-Virus: Die mysteriöse "Affenseuche"

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