Einsame werden zusammen noch einsamer

Isolierte Menschen können wenig von Leidensgenossen profitieren. Therapeuten müssen zuerst die Selbstwahrnehmung ihrer Patienten ändern. Dann klappt's auch mit dem Nachbarn.

Von Thomas Trappe Veröffentlicht:
Einsamkeit beginnt im Kopf. Therapeuten müssen vor allem an der Selbstwahrnehmung Betroffener arbeiten.

Einsamkeit beginnt im Kopf. Therapeuten müssen vor allem an der Selbstwahrnehmung Betroffener arbeiten.

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CHICAGO. Die Alltagsweisheit ist genauso verbreitet wie sie offenbar falsch ist. Menschen, die sich einsam fühlen, ist am besten geholfen, wenn sie andere Menschen treffen, sich sprichwörtlich "unters Volk mischen".

Dass die Erkenntnis vom Stammtisch bis zur Therapeutenpraxis reicht, ändert nichts daran, dass sie offenbar ein Trugschluss ist. Das jedenfalls zeigt eine US-amerikanische Studie von Wissenschaftlern um den Psychologieprofessor John Cacioppo an der Universität Chicago. Erschienen ist sie jetzt in der Online-Ausgabe des "Personality and Social Psychology Review".

Besuch beim nächsten Volksfest nützt wenig

Die Wissenschaftler fanden heraus, dass für Therapeuten eine Aufgabe Priorität haben sollte. Und zwar die, ihre Patienten davon abzubringen, sich auf ihre vermeintliche oder tatsächliche Einsamkeit zu konzentrieren. Ein Besuch des nächsten Volksfestes scheint da weniger hilfreich.

Damit widersprechen die Forscher fundamental der unter Psychologen und Therapeuten weit verbreiteten Auffassung, Kontakte seien die beste Hilfe für Menschen, die sich isoliert fühlen. Auch soziale Kompetenz zu trainieren sei keinesfalls der Königsweg, stellten die Wissenschaftler deutlich klar.

Für seine Untersuchung unterzog das Forscherteam mehrere Studien der vergangenen Jahre zum Thema Einsamkeit einer sogenannten Metaanalyse. Ihr Ziel: Die wirksamste Strategie gegen Einsamkeit zu finden. Später wurden dann die Ergebnisse jener 20 Studien zusammengefasst, die die strengste Methodik aufwiesen.

Demnach lässt sich sagen, dass es grundsätzlich vier Behandlungsmethoden gibt, die immer wieder von Psychologen und Therapeuten angewendet werden. Den Patienten direkt sozial zu unterstützen, die soziale Kompetenz zu verbessern und ihn in Kontakt mit anderen Menschen zu bringen sind zwar durchaus wirksame Ansätze.

In ihrer Bedeutung sticht allerdings die vierte Methode heraus. Die Art und Weise nämlich, wie jemand über sich, aber auch über andere denkt, also die "soziale Kognition", zu ändern, wirkt am besten, sprich, reduziert das Einsamkeitsgefühl.

Die Taktik wird innerhalb der kognitiven Verhaltenstherapie angewandt, die zum Beispiel bei der Behandlung von Menschen mit Depressionen zur Anwendung kommt, aber auch bei einigen anderen psychischen Erkrankungen. Darin lernen Betroffene, negative Meinungen über sich selbst zu ändern und den Glauben abzubauen, auch andere denken schlecht über sie.

Menschen werden immer einsamer

"Wirksame Maßnahmen müssen also nicht so sehr darauf abzielen, Einsame mit Mitmenschen in Kontakt zu bringen oder ihre sozialen Fähigkeiten zu verbessern", fasst Studienleiter John Cacioppo zusammen. "Es geht vor allem darum, etwas an der Art zu verändern, wie die Betroffenen andere Menschen wahrnehmen, wie sie über sie denken und wie sie sich anderen gegenüber verhalten", ergänzte er.

Beteiligt an der Studie war auch der Chicagoer Medizinprofessor Christopher Masi. Er erklärte, dass Gruppentherapien sogar kontraproduktiv wirken könnten. "Es ist wenig überraschend, dass es nicht hilft, einen Haufen einsamer Leute zusammenzubringen, wenn man weiß, was die Ursachen von Einsamkeit sind", sagte er.

So hätten genügend Studien ja bereits gezeigt, dass einsame Menschen sich selbst verzerrt wahrnehmen und in der Folge dann auch noch ihrem Gegenüber diese schlechte Wahrnehmung unterstellen. Einsame zum Beispiel in Gruppentherapien zusammenzuführen sei abwegig, da im Prinzip nur Menschen mit "abnormalen Wahrnehmungen" an einem Tisch säßen, ohne voneinander etwas lernen zu können.

Dass Einsamkeit nicht nur aufs Gemüt, sondern mittelbar auch auf die Gesundheit schlägt, gilt unter Medizinern und Therapeuten inzwischen als gesicherte Erkenntnis. Ein Wissenschaftlerteam aus Utah präsentierten jüngst eine Studie, die zu dem Ergebnis kam, dass sozial integrierte Menschen nicht nur glücklicher sind, sondern auch länger leben.

Der Effekt negativ empfundener Einsamkeit sei fast genauso groß wie der des Rauchens und übertreffe viele andere Risikofaktoren wie Übergewicht oder Bewegungsmangel.

Psychologen und Therapeuten, so hoffen die Wissenschaftler aus Chicago nun, können aus den neuen Studien Erkenntnisse ziehen, um die Behandlung einsamer Menschen zu verbessern. Bei neuen Therapiedesigns sollte, so eine Forderung der Studie, die besondere Bedeutung der sozialen Kognition besser berücksichtigt werden.

Zur Erinnerung: Kognition ist ein Überbegriff für Prozesse, die mit dem Erkennen einer Situation zusammenhängen: als etwa Wahrnehmung, Erkennen, Beurteilen, Bewerten.

Soziale Kognition wird oft nachrangig behandelt

Einsamkeit werde für die Gesundheit der Bevölkerung ein steigendes Risiko, so John Cacioppo. "Die Menschen werden immer einsamer und die damit verbundenen Gesundheitsprobleme werden weiter zunehmen."

Die soziale Kognition, hat zum Beispiel bei der recht häufig angewandten kognitiven Verhaltenstherapie nach Beck nachgeordnete Bedeutung. Zunächst sind Patienten bei dieser Therapie aufgefordert, unter Menschen zu kommen, zum Beispiel, indem sie Kontakt mit der Familie oder Bekannten aufnehmen - eben "unter Leute kommen".

Im zweiten Teil der Therapie folgt dann die systematische Analyse negativer Gedanken des Patienten. Erst zum Ende der Behandlung hin ist vorgesehen, negative Verzerrungen im Selbstbild zu behandeln.

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