Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis90/Die Grünen

Primärarztsystem: Grüne werfen Regierung Informationsdefizite und fehlendes Problembewusstsein vor

Die Debatte um die Einführung eines Primärarztsystems in Deutschland nimmt Fahrt auf. Die Grünen warnen die Regierung davor, unvorbereitet in die Umsetzung des Projekts zu gehen. Und dann wäre da noch eine bemerkenswerte Haltung der Gesundheitsweisen.

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Immer erst in die Hausarztpraxis. So wollen Union und SPD Engpässe in der ambulanten Versorgung angehen. Bündnis90/Die Grünen warnen vor fehlender Umsetzungskompetenz der Regierung.

Immer erst in die Hausarztpraxis. So wollen Union und SPD Engpässe in der ambulanten Versorgung angehen. Bündnis90/Die Grünen warnen vor fehlender Umsetzungskompetenz der Regierung.

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Berlin. Ein „verbindliches Primärarztsystem“ einzuführen haben sich Union und SPD ins Lastenheft geschrieben. Jetzt sind die Koalitionäre erstmals ernsthaft mit diesem Programmpunkt konfrontiert. Und was die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion von Bündnis90/Die Grünen geantwortet hat, zeigt vor allem eines. Eine originelle Idee, ein zündender Funke oder wenigstens eine Art Plan sind noch nicht in Sicht.

„Es ist erschreckend zu sehen, wie gering das Problembewusstsein und wie schlecht die Informationslage der Bundesregierung in den Fragen der haus- und kinderärztlichen Versorgung in Deutschland ist“, kommentierte der Grüne Bundestagsabgeordnete Professor Armin Grau die Antworten auf die 64 Fragen, die die Fraktion gestellt hatte. Grau ist selbst Facharzt für Neurologie mit beruflichen Erfahrungen sowohl im ambulanten als auch im stationären Sektor. Ein verbindliches primärärztliches System könne nur eingeführt werden, wenn alle Menschen in Deutschland sich in Praxen in ihrer Nähe einschreiben könnten.

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Die Autorinnen und Autoren flüchten sich bei der Beschreibung des gesundheitspolitischen Großprojekts in Allgemeinplätze und Appelle: „Bei der Einführung eines Primärversorgungssystems handelt es sich um ein komplexes Reformvorhaben“, stellen sie eingangs fest. Die „Erarbeitung des Reformkonzeptes“ sei nicht abgeschlossen, das Gelingen der Reform vom Mitwirken sowohl der Akteure im Gesundheitswesen, insbesondere in der Selbstverwaltung, der Ärzteschaft, der Gesundheitsberufe und nicht zuletzt der Patientinnen und Patienten abhängig. Deshalb bedürfe die Reform eines „sorgfältigen Vorbereitungsprozesses“.

Fragen zu möglichen Mehr- und Minderausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung nach dem Ausbau eines Primärarztsystems mag die Regierung nicht konkret beantworten. Deren Höhe hänge von der konkreten Ausgestaltung der künftigen Primärarztversorgung ab, heißt es dazu lapidar.

Armin Grau, Sprecher seiner Fraktion für Arbeit und Soziales sowie Mitglied im Gesundheitsausschuss des Bundestags, vermisst im Umsetzungsplan von Schwarz-Rot Essenzielles, zum Beispiel Daten zur Zahl hausärztlicher Praxen, die gar nicht an der hausärztlichen Versorgung teilnehmen oder zur Erreichbarkeit von Kinderarztpraxen. So genannte „atypische Hausarztpraxen“ können zum Beispiel ausschließlich auf psychotherapeutische Leistungen spezialisiert sein

Die Regierung räumt Informationsdefizite ein: Es fehlten Daten zur Erreichbarkeit von Praxen mit dem öffentlichen Nahverkehr. Und: Zu den aktuellen Wartezeiten auf haus- und fachärzliche Termine lägen keine differenzierten, validen Daten vor, stellt die Regierung fest.

Tatsächlich nimmt die Zahl der Hausärztinnen und Hausärzte ab. Zwischen 1999 und 2024 ist sie um 4,8 Prozent gesunken. Laut Statistischem Bundesamt fehlten im Sommer diesen Jahres rund 5000 Hausärztinnen und Hausärzte. Die Robert Bosch-Stiftung hat zudem ermittelt, dass die Zahl der hausärztlichen Einzelpraxen in den vergangenen zehn Jahren um rund 5000 auf nun 25.000 zurückgegangen ist. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung geht aktuell davon aus, dass sich die Zahl der Vollzeitäquivalente von Hausärzten von derzeit rund 51.500 auf unter 50.700 im Jahr 2040 verringern werde.

Berufsausübungsgemeinschaften und Medizinische Versorgungszentren leisten zunehmend Beiträge, die sich auftuenden Lücken in der hausärztlichen Versorgung mit angestellten Kräften zu füllen.

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Inwieweit sich darüber in ein bis zwei Jahrzehnten eine flächendeckende Versorgung sicherstellen lässt, ist allerdings noch nicht hinreichend untersucht. In ihrer Antwort auf die Fragen von Bündnis90/Die Grünen verweist die Regierung darauf, dass sie das Niederlassungsverhalten in überversorgten beziehungsweise unterversorgten Gebieten mit Zu- und Abschlägen beim Honorar steuern will. Auch dies stehe im Koalitionsvertrag.

Armin Grau zieht den Schluss, dass die Pläne der Koalition zu kurz greifen dürften. Bei der Einführung eines Primärarztsystems müssten viel stärker auch die Praxisteams und nicht-ärztliche Gesundheitsberufe einbezogen werden.

Aber auch an dieser Stelle könnte es haken: Der Sachverständigenrat Gesundheit und Pflege hat in seinem Gutachten von 2024 nicht nur die Ärztinnen und Ärzte, sondern auch Pflegefachpersonen und die Medizinischen Fachangestellten unter „Engpassberufen“ eingeordnet. Der Vorsitzende des Rats, Professor Michael Hallek, hatte damals im Interview mit der Ärzte Zeitung einem strengen Primärarztmodell eine Absage erteilt. „Das wollen wir nicht“, sagte Hallek.(af)

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