Interview

"Geschwister nicht stigmatisieren!"

Marlies Winkelheide entwickelte deutschlandweit als eine der Ersten eigene Angebote für Geschwister behinderter und kranker Kinder. Heute gilt sie als Pionierin der Geschwisterarbeit.

Von Christina Bauer Veröffentlicht:
Die Sozialwissenschaftlerin Marlies Winkelheide

Die Sozialwissenschaftlerin Marlies Winkelheide

© Frank Scheffka

Ärzte Zeitung: Sie haben in den 1970er Jahren begonnen, Angebote für Geschwister chronisch kranker und behinderter Kinder zu entwickeln. Was hat sie auf diese Idee gebracht?

Marlies Winkelheide: Seit 1976 habe ich Seminare mit Familien behinderter Kinder durchgeführt. Bei einem Familienseminar arbeiten alle am selben Thema, in unterschiedlichen Gruppen (Eltern, behinderte Kinder, Geschwister), und mit verschiedenen Methoden. Am Ende gibt es einen Erfahrungsaustausch.

Es gab auch integrative Angebote für Eltern, behinderte Kinder und Geschwister. Es war 1982 die Idee von Eltern, die Geschwister zu einem eigenen Seminar einzuladen, damit sie frei sprechen und Erfahrungen austauschen können. Dem ersten Seminar 1982 mit dem Thema "Ich bin doch auch noch da" folgten viele weitere.

Wir entwickelten ein Konzept für die Geschwister-Begleitung durch Bildungsangebote, das wir immer wieder den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anpassen mussten. Es ist wichtig, Geschwister nicht zu stigmatisieren. Geschwisterkind zu sein ist kein Grund für eine Therapie. Es ist eine Lebenssituation, in der es darauf ankommt, immer wieder genau hinzusehen und Raum für Auseinandersetzungen zu schaffen.

Was ist Ihnen bei den Angeboten besonders wichtig?

MW: Das Schaffen von geschützten Räumen ist das Wesentlichste.

Macht es einen Unterschied, ob es bei dem kranken Kind um etwas Körperliches, Seelisches oder eine Behinderung geht?

MW: Unser Ansatz ist es, die Geschwister miteinander in Kontakt zu bringen. Es ist ein Austausch unter Experten in eigener Sache. Es gibt sehr verschiedene Lebenssituationen und Erfahrungen. Das spielt aber keine wesentliche Rolle in einer Gruppe, wenn es um das Leben mit einer Schwester oder einem Bruder mit einer Behinderung, Beeinträchtigung oder Erkrankung geht.

MW: Das vereint sie, es ist die Grundlage für eine besondere Beziehung. Auf Verschiedenheiten und Besonderheiten kann in der Form der Organisation der Treffen reagiert werden – zum Beispiel in Arbeitsgruppen für Jungen, Mädchen, Älteste oder Jüngste.

Wie lässt sich einschätzen, welche Geschwisterkinder eine Prävention benötigen und welche nicht?

MW: Meine Überzeugung ist, dass Geschwister wissen sollten, dass es Menschen gibt, die sich für ihre Sichtweise interessieren. Sie sollten ein Angebot kennengelernt haben, damit sie aus eigener Entscheidung darauf zurückgreifen können. Wir erleben in all den Jahren, dass Geschwister immer wieder an Seminaren teilnehmen, um Beratungsgespräche bitten und an Erfahrungen anknüpfen.

Ist die Geschwister-Erfahrung auch für Erwachsene noch ein Thema? Was hilft ihnen, wenn es so ist?

MW: Seit 15 Jahren biete ich Seminare für Erwachsene an. Jede Lebensphase bringt für Geschwister eine besondere Herausforderung mit sich. Manche haben sich noch nie mit anderen über ihre Gefühle und Erfahrungen ausgetauscht. Sie fühlen sich befreit, wenn das möglich ist, ohne sich erklären zu müssen.

Es gibt Fragen und Themen, die sie alle verbinden: das Finden ihrer Rolle, die Übernahme von Verantwortung, ihre Verpflichtung, das aushalten müssen.

Zum Beispiel: Was bedeutet Gerechtigkeit im Zusammenleben mit behinderten oder kranken Geschwistern? Verrate ich meine Geschwister, falls jemand über Behinderte lästert und ich nichts sage? Wofür bin ich verantwortlich, wie lang? Werde ich noch geliebt, wenn ich nein sage? Was muss ich tun, damit ich verstanden werde? Oft geht es dann darum, eine Balance zwischen eigener und Ursprungsfamilie zu finden.

Lesen Sie dazu auch: Stiftung FamilienBande: Auch in einer Familie kann man einsam sein

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