Nachruf

Professor Ulrich Schwabe – Streiter für rationale Pharmakotherapie

Professor Dr. Ulrich Schwabe ist am 28. Februar im Alter von 85 Jahren in Heidelberg verstorben. Der Arzneiverordnungs-Report ist sein bleibendes Vermächtnis.

Von Jürgen Klauber Veröffentlicht:
Professor Ulrich Schwabe wurde 19. Juli 1935 in Göttingen geboren.

Professor Ulrich Schwabe wurde 19. Juli 1935 in Göttingen geboren.

© Jens Kalaene / picture-alliance

Als Pharmakologe war Professor Ulrich Schwabe ein hoch anerkannter Experte in der experimentellen Grundlagenforschung wie auch in der anwendungsbezogenen Forschung. Mit seinem Tod verlieren alle, die sich in Deutschland für eine rationale, also wirksame, sichere und wirtschaftliche Arzneimitteltherapie einsetzen, einen ihrer wichtigsten Mitstreiter.

Das Engagement für eine rationale Arzneimitteltherapie ist zugleich das Thema, das Schwabe und das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) rund 40 Jahre verbunden hat. So wurde mit den Daten des Jahres 1980 erstmals eine bundesweite Stichprobe ärztlicher Arzneiverordnungen im WIdO analysiert.

Die spannenden neuen Einblicke in die Arzneimittelversorgung in Deutschland führten zur ersten Ausgabe des Arzneiverordnungs-Reports, der 1985 erschien. Das Buch wurde von Schwabe und dem damaligen WIdO-Leiter Dr. Dieter Paffrath gemeinsam herausgegeben.

Aus den zunächst kleinen Anfängen entwickelte sich unter der pharmakologischen Leitung von Schwabe im Laufe der Jahre ein umfassendes Standardwerk, das jährlich den Arzneimittelmarkt beleuchtet. War der deutsche Arzneimittelmarkt zuvor eine „Blackbox“ gewesen, fand die ungewohnte, schnell zunehmende Transparenz über die kassenärztlichen Arzneimittelverordnungen die Beachtung aller Marktbeteiligten. In den Worten von Lancet: „Each year a market researcher’s dream appears in the bookshops.“

Transparente Datenbasis

Das Analyse-Instrumentarium, das Schwabe und das Forschungsprojekt „GKV-Arzneimittelindex“ im WIdO gemeinsam entwickelt haben, bietet seit Jahrzehnten eine transparente Datenbasis und fundierte Auswertungen für die deutsche Gesundheitspolitik. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre prägte etwa die Frage hochpreisiger Generika verbunden mit der Frage der Bioäquivalenz die Diskussion. Die Analysen trugen wesentlich dazu bei, dass Ende der 80er die Arzneimittelfestbeträge auf den Weg gebracht werden konnten.

Später dann ermöglichten die Arzneimittelrabattverträge, die auf der gleichen pharmakologischen Bewertungslogik zur Austauschbarkeit von Arzneimitteln aufsetzten, jährlich mehrere Milliarden Euro an weiteren Einsparungen über die Festbetragsregelungen hinaus.

Ein besonderes Augenmerk galt in den 90er Jahren der Analyse „umstrittener Arzneimittel“, deren pharmakologisch-therapeutischer Wert zweifelhaft ist. Zunehmend in den Blick genommen wurden auch die „Me-Too“-Arzneimittel, die als patentgeschützte Medikamente auf Basis von Molekülvariationen hochpreisig auf den Markt gebracht wurden, ohne einen Mehrwert gegenüber der etablierten Therapie mit deutlich kostengünstigeren Wirkstoffen zu bieten.

Ein geschwärzter Report

Die Stellung des Arzneiverordnungs-Reportes und des Projektes „GKV-Arzneimittelindex“ als zentrale Dokumentationsstellen des deutschen Arzneimittelmarktes wurden in den 90er Jahren zunehmend zur Zielscheibe der pharmazeutischen Hersteller. Sie gingen gegen den Report vor – nicht mit Sachargumenten, wie sie Schwabe so wichtig waren, sondern gerichtlich.

Die Bewertung von Arzneimittelgruppen als pharmakologisch-therapeutisch „umstritten“, die Schwabe im Arzneiverordnungs-Report verantwortete, wurde als so einflussreich wahrgenommen, dass betroffene Arzneimittelhersteller juristische Schritte für notwendig erachteten.

Prof. Dr. Ulrich Schwabe

  • Geboren am 19. Juli 1935 in Göttingen
  • 1954 legte er am Hölty-Gymnasium in Wunstorf die Reifeprüfung ab. Anschließend studierte er in Göttingen und Wien Medizin.
  • 1959 wurde er am Pharmakologischen Institut der Georg-August-Universität Göttingen zum Dr. med. promoviert
  • 1961 erhielt er seine Approbation als Arzt
  • 1966 habilitierte er sich für das Fachgebiet Pharmakologie und Toxikologie
  • 1977 bis zur Auflösung 1992 Mitglied der „Transparenzkommission“ beim Bundesgesundheitsamt, die den Arzneimittelmarkt pharmakologisch-therapeutisch und preislich transparent machen sollte
  • Seit 1981 Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft
  • 1992 bis 1995 und 2000 bis 2003 Vorsitzender des „Instituts für die Arzneimittelverordnung in der Gesetzlichen Krankenversicherung“, an dessen Stelle 2004 das IQWiG trat

In der Konsequenz erschien der Arzneiverordnungs-Report 1997 als teilweise geschwärztes Werk – ein einmaliger Vorgang. Die „verfügungsbeklagte Ausgabe ohne Aufstellung umstrittener Arzneimittel“ erwies sich jedoch für die Hersteller als Pyrrhussieg: Medien griffen den Vorgang auf und bescherten dem Werk noch größere Aufmerksamkeit. Die angerufenen Gerichte folgten den Argumenten der Gegner freilich nicht.

Auch wenn die Positivliste für Arzneimittel, deren Erstellung Schwabe mit verantwortet hat, von damaligen Bundesgesundheitsminister nicht an den Start gebracht wurde, sind die sogenannten umstrittenen Arzneimittel heute für einen Großteil der Patienten nicht mehr erstattungsfähig.

Nutzenbewertung für Arzneien

Im neuen Jahrtausend rückten dann die Preise neuer, besonders teurer Arzneimittel in den Blick. Auf der Grundlage der mittlerweile erreichten Transparenz über die Markt- und Preisentwicklung setzte sich zum Ende der ersten Dekade in der Politik im Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) die Erkenntnis durch, dass eine Nutzenbewertung und eine darauf aufsetzende Preisfestsetzung für Arzneimittel notwendig sind.

Im Arzneiverordnungs-Report beobachtete Schwabe weiterhin jährlich die aktuellen Entwicklungen aus pharmakologisch-therapeutischer Perspektive und zeigte immer wieder die noch bestehenden Wirtschaftlichkeitspotenziale auf. Besondere Aufmerksamkeit widmeten Schwabe und das WIdO in ihren Analysen dem trotz AMNOG verschärften Trend zu besonders hochpreisigen Arzneimitteltherapien, der sich vor allem bei einer Reihe von Orphan Drugs und Arzneimitteln für neuartige Therapien (ATMP) zeigt. Sie wurden flankiert von einem zunehmend liberalisierten und beschleunigten Marktzugang, der mit der Arzneimittelsicherheit in einem grundsätzlichen Konflikt steht.

Anfang der 90er begegnete ich in meiner damaligen Projektverantwortung für den „GKV-Arzneimittelindex“ im WIdO erstmals Schwabe bei der Sitzung der Ad-hoc-Kommission. In diesem Expertengremium wurden mit vielen Arzneimittelexpertinnen und -experten die Manuskripte des nächsten Arzneiverordnungs-Reports fachlich besprochen.

Arzneiverordnungs-Report 2020

Schwabe, Ulrich; Ludwig, Wolf-Dieter (Hrsg.), Springer-Verlag Berlin Heidelberg, 74,99 €, ISBN 978-3-662-62167-7

Schwabe beeindruckte durch sein unglaublich breites Expertenwissen, die zwingende Stringenz seiner Argumentation und eisernes Beharren auf wissenschaftlichen Belegen. In allen Jahren der folgenden Zusammenarbeit erlebte ich Schwabe als höchst seriösen Wissenschaftler, der immer und ausschließlich seinem fundiert begründeten wissenschaftlichen Urteil folgte.

Umso mehr muss ihn der Vorwurf einiger Pharmafirmen in der benannten gerichtlichen Auseinandersetzung getroffen haben, er habe sich durch Krankenkassen beeinflussen lassen. Verstärkt stellte er fortan für alle sichtbar klar, dass er unabhängig von allen Marktakteuren auftrat, woran sein Handeln ohnehin niemals Zweifel hatte aufkommen lassen.

Pharmakologischer Gelehrter

Schwabe war ein Grundlagenforscher und pharmakologischer Gelehrter ersten Ranges mit einem extrem breiten klinisch-pharmakologischen Wissen – gepaart mit einem politischen Kompass und Gestaltungswillen. Er engagierte sich in der Ausbildung und Fortbildung vieler Generationen von Ärztinnen und Ärzten. Seine Messlatte war dabei die Vermittlung einer rationalen Arzneimitteltherapie, die Wirksamkeit und Sicherheit, aber auch Wirtschaftlichkeit im Blick hat.

Das hohe Verantwortungsgefühl für die Schaffung von Markttransparenz als Grundlage für eine gute Arzneimittelmarktpolitik war seine Triebfeder für das jahrzehntelange Engagement für den Arzneiverordnungs-Report und die lange Zusammenarbeit mit dem WIdO.

Er engagierte sich in diesem Sinne auch in vielen nationalen und internationalen Gremien und war ein von der Politik gefragter Berater. Im Jahr 2005 erhielt er für sein Schaffen das Bundesverdienstkreuz.

Mit Ulrich Schwabe verlieren wir einen hervorragenden Wissenschaftler und eine beeindruckende Persönlichkeit. Er war immer authentisch, klar und geradlinig in der Argumentation, und er verfolgte seine Ziele mit Stringenz und feinsinnigem Humor. Mein Mitgefühl wie auch das meiner Kolleginnen und Kollegen im WIdO, gelten seiner Frau und der gesamten Familie.

Jürgen Klauber ist Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO)

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