Retter der vergessenen Menschen in Israel

Die Organisation "Ärzte für Menschenrechte" kümmert sich in Israel um die, die durchs Sozialsystem fallen. Für ihren Einsatz werden sie am 6. Dezember mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Ihre Arbeit in der Klinik macht Hoffnung - stößt aber auch an Grenzen.

Von Indra Kley Veröffentlicht:
Sprechstunde während dem Feierabend: Professor Zvi Bentwich in der offenen Klinik in Jaffa.

Sprechstunde während dem Feierabend: Professor Zvi Bentwich in der offenen Klinik in Jaffa.

© Kley

JAFFA/TEL AVIV. "Zvi, kannst du dir bitte einmal kurz meinen Patienten anschauen?" Professor Zvi Bentwich hat seine braune Leder-Aktentasche noch in der Hand, die Jacke hängt locker überm Arm. Es ist Sonntagnachmittag, 17 Uhr. Im kahlen Empfangsraum sind alle Plätze belegt. Sudanesen, Eritreer, einige Asiaten sitzen hier, Junge, Alte, Frauen. Kinder spielen zwischen den Stühlen Fangen. Wer keinen Platz bekommen hat, hockt vor der Tür auf der Straße.

Für Professor Bentwich, Leiter des Zentrums für Tropenkrankheiten und Aids der Ben Gurion Universität in Beer Sheva, beginnt nun der Feierabend. Zeit zum Verschnaufen bleibt ihm in der Offenen Klinik der "Ärzte für Menschenrechte in Israel" nicht.

Im Behandlungszimmer Nummer Drei sitzt ein junger Mann aus dem Sudan, das linke Hosenbein hochgekrempelt. Der Knochen ist stark nach Außen gekrümmt, das Knie angeschwollen. Vernarbtes Gewebe wuchert auf der festen dunklen Haut. "Hier, was sollen wir da machen?", fragt Dr. Noam Freud, der den Patienten behandelt.

Bentwich setzt seine Brille auf, betrachtet prüfend das Knie. "Sag Sara, sie soll Angebote einholen. Das muss operiert werden."

"Ein typischer Fall", resümiert Professor Bentwich später, als er am Schreibtisch in seinem kargen Behandlungsraum sitzt. "Ein Darfur-Flüchtling, der durch einen Autounfall multiple Frakturen und nun auch noch eine Osteomyelitis hat. Er braucht eine OP, aber da wird sich niemand drum kümmern, wenn wir es nicht tun."

Bentwich ist Immunologe, "einer der ersten Ärzte überhaupt, der sich in Israel mit Aids beschäftigt hat", wie er betont. Ganz rational, nicht prahlerisch, klingt das. Der 75-Jährige ist keiner, der nur im Labor oder auf Symposien anzutreffen ist. Bentwich ist ganz nah dran. Als Vorsitzender und Freiwilliger von den "Ärzten für Menschenrechte in Israel" widmet er sich in seiner freien Zeit denjenigen, um die sich sonst niemand kümmert: Palästinenser, Flüchtlinge, Arbeitsmigranten, Illegale.

1988, während des ersten Palästinenseraufstandes, wurde die Organisation von der Ärztin Dr. Ruchama Marton gegründet. Sie war der Überzeugung, dass "jede Person das Recht auf Gesundheit im größtmöglichen Rahmen hat, das von den Prinzipien der Menschenrechte, sozialer Gerechtigkeit und medizinischer Ethik definiert wird".

Bis heute sind die Ärzte für Menschenrechte jede Woche mit ihrer mobilen Klinik im Westjordanland unterwegs. In den abgesperrten Gazastreifen dürfen sie seit Juni 2009 jedoch nicht mehr. "Eine offizielle Begründung gab es nicht", sagt Ran Yaron, Leiter der Abteilung "Besetzte Palästinensische Gebiete". "Inoffiziell haben wir aber gehört, dass der Fakt, dass wir nach unseren Gaza-Fahrten über die miserable Situation dort sprechen, darauf schließen lasse, dass wir eine politische Motivation verfolgten und keine medizinische."

Über 200 Ärzte stehen in der Kartei der Freiwilligen

Ein Fernsehbericht über die Arbeit der Organisation in den Palästinensergebieten war es, der Professor Zvi Bentwich vor zehn Jahren zu den Ärzten für Menschenrechte brachte. "Ich habe selbst als Soldat in den Kriegen 1967 und 1973 gekämpft, war viele Jahre Reservemediziner bei der israelischen Luftwaffe - aber trotzdem war ich immer gegen die Besatzung", sagt Bentwich.

Der 75-Jährige hofft, dass er mit seiner Arbeit Brücken bauen kann. Und andere Landsleute zum Nachdenken bringt, die sich sonst taub gegenüber den Forderungen linker Gruppen stellen. "Wir glauben, dass unsere Agenda - obwohl auch wir gegen die Besatzung der Palästinensergebiete sind - eine viel größere Akzeptanz findet, als die anderer Friedensorganisationen. Das Recht auf Gesundheit ist einfach ein basales, grenzübergreifendes Recht."

Medikamente können die Ärzte nicht oft verschreiben.

Medikamente können die Ärzte nicht oft verschreiben.

© Levi & Salomon

Mindestens einen Tag pro Woche bringt Bentwich für die Arbeit bei den Ärzten für Menschenrechte auf. Das wohl zeitintensivste Projekt ist die Offene Klinik in Jaffa. Angeschlossen an die Büroräume der Organisation werden hier in drei Behandlungsräumen von Sonntag bis Freitag Menschen behandelt, die durchs israelische Gesundheitssystem fallen.

"Wir schaffen im Schnitt 50 Patienten täglich, manchmal sind es aber auch 70", erklärt Iman Agbaria. Die gelernte Arzthelferin leitet seit zwei Jahren die Klinik und koordiniert die Arbeit der Freiwilligen. Rund 200 Mediziner stehen auf Agbarias Liste. Dazu kommen Krankenschwestern und Medizin-Studenten, die aushelfen.

Finanziert wird die Organisation durch Spenden: Geld, Medikamente, die Angehörige von Verstorbenen in die Klinik bringen, medizinische Geräte. Ausreichend ist das jedoch nicht. Braucht ein Patient weitere Tests oder gar eine Operation, dann müssen die Ärzte für Menschenrechte Klinken putzen. "Wir hören uns um, wo es am günstigsten ist", erzählt Agbaria. "Und wir fragen all unsere Freiwilligen, ob sie vielleicht in ihrem Krankenhaus ein CT oder eine Op machen können."

Waren es früher Gastarbeiter mit einer Beschäftigung, die in der Klinik behandelt wurden, so sind es seit einiger Zeit mehrheitlich afrikanische Asylsuchende - Menschen, die bei der Erstbehandlung nicht einmal die 30 Schekel (etwa sechs Euro) für das Anlegen einer Kartei zahlen können.

Immer mehr afrikanische Flüchtlinge werden versorgt

Ohne freiwillige Helfer wäre das Projekt nicht möglich.

Ohne freiwillige Helfer wäre das Projekt nicht möglich.

© Kley

Den Rotstift muss Bentwich auch im Behandlungszimmer Eins ansetzen. Ein HIV-infizierter Patient aus dem Sudan ist bei ihm. Bentwich unterhält sich auf Arabisch mit dem jungen Mann. Der Sudanese ist über die israelisch-ägyptische Grenze nach Israel geflüchtet, wurde von der Polizei aufgegriffen und war dann mehrere Monate im Gefängnis. "Da habe ich zumindest meine Medikamente bekommen", sagt der Mann.

Trotz des Virus‘ macht der Flüchtling einen guten Eindruck. So gut, dass Bentwich ihn erst in drei Monaten wiedersehen will. Der Mann ist enttäuscht, will widersprechen. Bentwich begleitet ihn zur Tür. "Ich wünschte mir in solchen Momenten immer, ich hätte die israelische Bevölkerung in meiner Hosentasche", seufzt er, als der Mann gegangen ist, "damit sie sehen, was in ihrem Land passiert. So wäre es viel einfacher, den Hass und das Misstrauen beizulegen."

Es klopft, der nächste Patient steht vor der Tür. Zeit zum Verschnaufen bleibt nicht.

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