Ärztliches Selbstverständnis
Freie Arztwahl, Arztzentriertheit, ärztliche Ethik: Gilt das noch oder kann das weg?
Niedergelassene wie angestellte Ärzte steigen in wichtige Debatten ein. Bei den Hauptversammlungen von Virchowbund und Marburger Bund wurden lange gepflegte Gewissheiten in Frage gestellt. Das ist gut so!
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Digitalisierung, Personalmangel, ärztliches Selbstverständnis: Niedergelassene Ärztinnen und Ärzte sowie ihre Kolleginnen und Kollegen in den Krankenhäusern suchen den freien Blick auf die Zukunft.
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Berlin. Die Ärzteschaft als Ganzes, ihr Selbstverständnis als Berufsgruppe und ihre Arbeitsorganisation stehen vor massiven Umbrüchen. Die Bundesagentur für Arbeit führt Ärztinnen und Ärzte, die Medizinischen Fachangestellten und die Pflegekräfte in ihren Statistiken heute schon als „Engpassberufe“.
In Praxen wie in Krankenhäusern wird den Verantwortlichen zunehmend klarer, dass die Gesundheitsversorgung mit heutigen Bordmitteln alleine in Zukunft nicht mehr in gleichem Umfang wie heute möglich sein wird.
Der Vorsitzende des Sachverständigenrats Gesundheit und Pflege Professor Michael Hallek hat vor Jahresfrist im Interview mit der Ärzte Zeitung bereits vor einer drohenden Dysfunktionalität des Gesundheitssystems gewarnt.
In den Praxen und Krankenhäusern wird die Zukunft heiß diskutiert. Am Wochenende stellten sowohl der Virchowbund als auch der Marburger Bund klassische Positionen der Ärzteschaft zur Diskussion. Bis die Voraussetzungen stehen, etwas zu ändern, wird es aber wohl noch dauern.
Kräftigen Gegenwind sieht der Virchow-Bund auf die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte zukommen. Eine uneingeschränkt freie Arztwahl, wie sie derzeit bestehe, werde es künftig nicht mehr geben können, hieß es bei der Hauptversammlung des Bundes.
Eine Diskussion zum „Masterplan Patientensteuerung“ war mit der Frage verknüpft: „Wie gelingt der Paradigmenwechsel?“ Das heißt im Wortsinn, es solle über das Eingemachte diskutiert werden, über alte Denkmuster und wie sie überwunden werden können.
Digital vor ambulant vor stationär
Worauf eine neue Perspektive in der niedergelassenen Ärzteschaft zielen könnte, machte der Virchowbund-Vorsitzende Dr. Dirk Heinrich deutlich. Die aktuellen Wege in die Versorgung müssten durch den Dreiklang „digital vor ambulant vor stationär“ ersetzt werden. Die Medizinischen Fachangestellten sollen dadurch eine Aufwertung erfahren.
„Vieles ist delegierbar in der Praxis“, sagte der niedergelassene HNO-Arzt. Die Medizinischen Fachangestellten sollten mehr und neue Aufgaben bekommen. Patientensteuerung müsse „für alle so geil sein“, dass man sie auch haben wolle, sagte Heinrich.
Bei den Angesprochenen ist die Botschaft angekommen, der Glaube wirkt allerdings noch nicht gefestigt. Es klingt, als würden die digitalen Helfer bei den MFA ein Stück weit auch als Konkurrenz empfunden.
„Die Stärkung der Gesundheitsberufe geht unter“, sagte Patricia Ley, Vizepräsidentin des Verbandes medizinischer Fachberufe. Aktuell mache „die MFA ja nichts anderes als Ersteinschätzung“. Frustpotenzial bei Patienten drohe verstärkt zu werden, warnte Ley vor Risiken und Nebenwirkungen der Digitalisierung. Vielleicht wolle der Patient gar nicht dort versorgt werden, wohin die Künstliche Intelligenz ihn schicke.
Alles auf einen Arztkontakt ausgerichtet!?
Jenseits der Grenzen spielen solche Bedenken nicht überall eine Rolle. Auf Beispiele in Kanada und Schweden verwies der SPD-Gesundheitspolitiker Matthias Mieves. 30 bis 50 Prozent der Patientenanliegen dort könnten bereits heute telefonisch oder online von Fachkräften gelöst werden, die keine Ärzte seien.
Mit der Servicenummer 116 117 gebe es auch hierzulande bereits die Möglichkeit zur strukturierten Ersteinschätzung im Vorfeld des persönlichen Arzt-Patienten-Kontakts. Die Dienstleistungen hinter der Servicenummer seien allerdings in den Bundesländern noch unterschiedlich organisiert
Mieves, der auch Berichterstatter für Digitales seiner Fraktion ist, kritisierte, dass Vergütung und Patientensteuerung ausschließlich auf den persönlichen Arztkontakt ausgerichtet seien. „Wenn Leute per App und Telefon behandelt werden können, sind sie froh, nicht in die Praxis zu müssen“, zeigte sich der Politiker überzeugt, dass sich viele „ärztliche Fälle“ so eindampfen ließen.
Mieves und sein Kollege von der CSU, Professor Hans Theiss, verbreiteten in der Diskussion wenig Hoffnung auf eine schnelle Entlastung der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte. Zwei Jahre werde es wohl noch dauern, bis ein Gesetzentwurf zum Umbau der Primärversorgung diskutiert werden könne.
Zankapfel Substitution
Pflegerats-Chefin: Arztzentriertes System aus der Zeit gefallen
Der Präsident der Bundesärztekammer Dr. Klaus Reinhardt kritisierte das „ständige sich Abarbeitenmüssen an der Arztzentriertheit des Gesundheitswesens“. Die Vorstellung, dass durch Substitution oder Delegation an nichtärztliche Gesundheitsberufe jenseits von haus- und fachärztlichen Praxen ganz viel eingespart werden könne, sei falsch. Wichtig sei zu überlegen: „Wer macht was? Und wie kann man sich gegenseitig unterstützen?“
Vor disruptiven Entwicklungen stehen auch die Ärztinnen und Ärzte in den Krankenhäusern – und damit vor ähnlichen Problemen wie ihre Kolleginnen und Kollegen in den Praxen. Die Überschrift über der Hauptversammlung des Marburger Bundes am vergangenen Wochenende drückte dies vergleichsweise drastisch aus: „Ärztliches Engagement vs. systemische Erschöpfung – Ressourcenmangel im Gesundheitswesen“ lautete das Oberthema.
Klinikreform grüßt mit „massiver Bürokratiezunahme“
Exemplarisch könnte dafür die Sorge der MB-Vorsitzenden Dr. Susanne Johna stehen, mit der geplanten Vorhaltefinanzierung der Krankenhäuser werde eine „massive Bürokratiezunahme“ einhergehen. Und das, ohne dass sich irgendetwas ändere.
Stichwort Arbeitsverdichtung: Johna verwies darauf, dass seit Anfang vergangenen Jahres 36 Krankenhäuser geschlossen worden seien. Patientinnen und Patienten lösten sich mit schließenden Standorten allerdings nicht mit auf. Zudem hätten Häuser, die nun mehr Patienten versorgen müssten, deshalb nicht sofort mehr Personal zur Verfügung.
Einen „gerechten Umgang“ mit den verbleibenden Ressourcen forderte daher in ihrem Vortrag Professorin Alena Buyx, Ärztin und ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrates. Trotz des erheblichen Einsatzes an Personal und Geld habe Deutschland nicht das beste Gesundheitssystem der Welt.
Bei einer Betrachtung der Mortalitätsraten im Krankenhaus erreiche die Versorgung hierzulande nicht einmal oberes Mittelfeld. Als Grund hat Buyx die „ärztliche Erschöpfung“ ausgemacht. Die Belastung im Krankenhaus sei ressourcengetrieben, stellte Buyx fest: „Wer am meisten leidet, will in Teilzeit arbeiten.“
Zukunft der Versorgung
Krankenhaus Rating Report: Primärarztsystem beginnt mit KI-Ersteinschätzung zu Hause
Der Mangel an ärztlicher Arbeitszeit kratzt an den Prinzipien des ärztlichen Handelns. Ärztinnen und Ärzte versuchten stets, Patienten als Partner wahrzunehmen. Das Recht des Patienten auf Selbstbestimmung sowie einer freien und informierten Entscheidungsfindung gerate unter den aktuellen Verhältnissen allerdings an Grenzen, betonte Buyx.
Es komme zu Missverständnissen, zu paternalistischen Entscheidung, zur Deindividualisierung von Patienten. Die hohe Arbeitsverdichtung, Schlafmangel, aber auch die Verpflichtung auf ökonomische Prinzipien widersprächen zudem dem medizinischen Leitsatz „primum nil nocere“, betonte die Ethikerin.
Vorschlag: „Bullshit“ aus der Administration kehren!
Die Interessenlagen im Gesundheitswesen seien komplex. Der Abbau von Bürokratie falle deshalb so schwer, weil jede Regel für sich genommen einen Sinn haben könne. Im Zusammenspiel hake es dann aber. Buyx plädierte gleichwohl für einen maßvollen, klugen Abbau von Regeln. Zum Beispiel sollten Arbeitszeitmodelle so kreativ wie möglich gestaltet werden können.
Statt KI dort zu entwickeln, wo sie direkt ins Arzt-Patienten-Verhältnis eingreife, sollte besser der „Bullshit“ aus der Administration getilgt werden. „Wir sollten beginnen, das Wegnehmen und Etwas-nicht-mehr-machen als Innovation zu begreifen“, sagte Buyx. Initiativen wie „choosing wisely“ seien sexy. Und mit einer neuen Priorisierung könne man sogar Geld machen. (af)






