"Rütli war ein Warnschuss für die Gesellschaft"

BERLIN (dpa). Auf dem Hof der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln knuffen sich ein paar Jungs spaßig balgend in die Rippen, Mädchen kichern in kleinen Gruppen. Alles ganz friedlich und normal, wie es auf Schulhöfen eben zugeht. Doch vor knapp einem Jahr schrieben die Rütli-Lehrer einen Brandbrief, riefen verzweifelt um Hilfe gegen die Welle der Gewalt in den Klassenzimmern und auf dem Schulhof.

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Über Nacht wurde die Berliner Rütli-Schule zum Symbol gescheiterter Integration. Im sozialen Krisengebiet stand die Schule unter Polizeischutz, Journalisten duckten sich vor Wurfgeschossen. "Multikulti regelt gar nüscht", bilanzierte Neuköllns Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD), der schon häufig sehr direkt die Probleme der Integration ansprach.

Der neue Schulsenator Jürgen Zöllner (SPD) lobt zum "Einjährigen" zwar viele neue, von Schülern und Lehrern ebenso ehrgeizig wie engagiert betriebene Projekte an der Schule, sagt aber vorsichtig: "Rütli war auch ein Warnschuss für die Gesellschaft. Es hat dank einiger guter Maßnahmen Verbesserungen gegeben, doch es liegt auf der Hand, dass damit die Welt dort nicht schlagartig in Ordnung ist."

Wie die Welt an der Rütli-Schule mit mehr als 80 Prozent ausländischen Schülern ein Jahr danach wirklich ist, kann nur schwer aufgespürt werden. Die Schulleitung hält dicht, Schüler lassen sich kaum noch ansprechen. Auch die Schulverwaltung übt starke Zurückhaltung.

Der spektakuläre Hilferuf der Rütli-Pädagogen glich damals einer Bankrott-Erklärung. "In vielen Klassen ist das Verhalten im Unterricht geprägt durch totale Ablehnung des Unterrichtsstoffes und menschenverachtendes Auftreten. Lehrkräfte werden gar nicht wahrgenommen, Gegenstände fliegen zielgerichtet gegen Lehrkräfte durch die Klassen, Anweisungen werden ignoriert", hieß es.

"Aggressivität, Respektlosigkeit und Ignoranz" waren weitere Stichworte. "Türen werden eingetreten, Papierkörbe als Fußbälle missbraucht, Knallkörper gezündet und Bilderrahmen von den Flurwänden gerissen." Die Liste war zwei DIN-A-4-Seiten lang und mündete im Anschluss an das Geständnis "Wir sind ratlos" in die mögliche Konsequenz, dass "die Hauptschule in dieser Zusammensetzung aufgelöst werden muss zugunsten einer neuen Schulform...".

Diesen Fluchtweg in die Resignation verweigerte der damalige Schulsenator Klaus Böger (SPD) kategorisch. "Kein Schüler, kein Lehrer und keine Schule wird aufgegeben", sagte er und schickte den dynamischen neuen Schulleiter Helmut Hochschild (49) in das Krisengebiet. Nach anfänglichen Rückschlägen, als noch mehrfach Polizei anrücken musste, drehte Hochschild in zäher Kleinarbeit mit seinem Kollegium die vergiftete Stimmung.

Eine intensive Beschäftigungstherapie und der stetige Versuch, alle miteinander in ein Boot zu nehmen und darin "starkzureden", waren der Kern seines Konzepts. Die plötzlich begeisterte Teilnahme an einem Tanz- und Theaterprojekt mit der internationalen Tanzgruppe "Young Americans" einschließlich eines Auftritts in der Veranstaltungshalle "Arena", die Gründung einer Schüler-Firma, die T-Shirts mit der Aufschrift "Rütli" vertreibt, die gemeinsame Musik der "Rütli-Band" und Boxsport-Projekte weckten das Interesse der Schüler.

Der vom Senat nun doch bewilligte Kriseneinsatz von drei arabisch und türkisch sprechenden Sozialarbeitern verbesserten das Klima zusätzlich. Hochschilds Nachfolger Aleksander Dzembritzki konnte im Oktober 2006 eine einigermaßen geordnete Szenerie übernehmen. Doch in einem "Spiegel"-Interview warnte Hochschild zum Abschied auch vor zu viel Hoffnung: "Die Hauptschule kann gar nicht gesund werden, das ganze System ist krank."

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