Niels H.-Prozess

Schluss mit Angst, Frust und Ignoranz

Pfleger Niels H. konnte zum Serientäter werden, weil viele Menschen nicht hinschauen wollten. Das soll am Klinikum Oldenburg nie mehr passieren.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
Der wegen Mordes an 100 Patienten angeklagte ehemalige Krankenpfleger Niels H. bei einem Prozesstag im vergangenen November.

Der wegen Mordes an 100 Patienten angeklagte ehemalige Krankenpfleger Niels H. bei einem Prozesstag im vergangenen November.

© Mohssen Assanimoghaddam / dpa

Keine Fehlerkultur, rohe Sprache, schlechte Kommunikation, schwache Führung – wenn es darum geht, mögliche Gründe dafür zu benennen, warum der ehemalige Krankenpfleger Niels H. unter den Augen seiner Kollegen 100 Patienten praktisch ungestört um ihr Leben bringen konnte, sind sich die Experten, mit denen die „Ärzte Zeitung“ gesprochen hat, im Allgemeinen weitgehend einig:

  • Es kann damals auf den betroffenen Intensivstationen in Oldenburg und Delmenhorst an einer Fehler- und Sicherheitskultur gemangelt haben.
  • Es kann an der Überzeugung gemangelt haben, dass die Patientensicherheit und Fürsorge über alles geht. Es kann an offener und klarer Kommunikation gemangelt haben.
  • Es kann an Achtsamkeit gemangelt haben.
  • Es kann an Know-how gemangelt haben, wie man dies alles zustande bringt.
  • Dessen ungeachtet sagen die Experten auch: Es mangelt bis heute vielerorts meist an ausreichendem Pflegepersonal, an Zeit, an Anerkennung und besserem Lohn für die Pflegenden. Stattdessen können Rohheit, Hetze, Unaufmerksamkeit, Druck und Überforderung in die ohnehin schwere Arbeit der Patientenversorgung einziehen.

Freundlich und ein lustiger Kollege sei er gewesen – so beschreiben Kollegen den ehemaligen Krankenpfleger Niels H.. Er steht derzeit im größten deutschen Mordprozess der Nachkriegszeit vor Gericht. Das Oldenburger Landgericht müht sich unter anderem darum, zu ergründen, ob die Kollegen von H. tatsächlich nichts von seinen Taten bemerkten, und wenn doch, warum sie nicht einschritten.

So weit bekannt, hat H. seine Tatserie im Jahr 2000 im Klinikum Oldenburg begonnen. Von 2003 bis 2005 arbeitete er im Krankenhaus Delmenhorst. H. ist bereits wegen Tötungen von Patienten in Delmenhorst zu lebenslanger Haft verurteilt worden. In neuerlichen Verfahren werden ihm jene 100 Taten vorgeworfen, von denen er 43 zugibt.

Der Richter verzweifelt fast

Der Angeklagte hat schwer kranken Patienten auf der Intensivstation in Oldenburg offenbar Kalium gespritzt, um sie in einen lebensgefährlichen Zustand zu bringen. Dr. Dirk Tenzer, heutiger Geschäftsführer des Krankenhauses spricht von 16 Taten, die H. in seinem Haus mit Kalium verübt haben soll.

Danach hat H. die Patienten reanimiert – eine Maßnahme, die er laut allen Zeugen besonders gut beherrschte und mit der er nach eigenen Aussagen prahlen wollte. Aber oft gelang die Reanimation nicht und die Patienten starben – Tötungen aus Eitelkeit.

„Was haben Sie gesehen?“ „Was haben sie gehört?“ „Was haben Sie bemerkt?“ Der Richter Sebastian Bührmann fragte H.s Kollegen alle fast dasselbe. „Wir sind auf der verzweifelten Suche nach der Wahrheit“, sagte Bührmann im Zuge der Vernehmungen.

 Viele Zeugen aber erinnern sich nicht. Und die, die von Erinnerungen berichteten, offenbaren eine beklemmende Situation, die auf der Intensivstation im Klinikum Oldenburg geherrscht haben muss. Da sei vom „Sensen-H.“ die Rede gewesen, vom „Rettungs-Rambo“. Viele Kollegen hätten bei H.s Arbeit „ein ungutes Gefühl“ gehabt.

Weggeschaut?

Und was hatte es mit der Strichliste auf sich, die die Todesfälle auf der Station 211 mit der Anwesenheit der verschiedenen Pfleger verglich? 18 Mal sei H. im Dienst gewesen, als Patienten starben oder reanimiert werden mussten, so die Liste, die der Richter auf eine Leinwand projizieren ließ.

Obwohl auch der stellvertretende Stationsleiter selbst auf dieser Liste geführt ist, habe er nicht darauf geachtet, was dort stand. „Und dass manchmal viel reanimiert wird, hängt ja nicht von Personen ab“, sagte er im Zeugenstand. Auch andere Kollegen reagierten nicht.

Und die hohen Kalium-Werte, die bei den Patienten gemessen worden waren? „Ein hoher Kaliumwert kann auch von einem Abnehmefehler herrühren.“ Von den vielen Reanimationen habe er kaum etwas mitbekommen. „Wenn ich an Bettplatz 1 arbeite, fällt mir nicht auf, was an Bettplatz 15 vor sich geht“, verteidigte er sich.

Im Übrigen habe er sich, anders als H., „nicht um Reanimationen gerissen.“ Ein anderer Zeuge, Frank Lauxtermann, hatte schon an einem früheren Verhandlungstag erklärt, es habe auf der Station eine Kultur des „Wegschauens und Wegduckens“ gegeben. Mehr als 20 Zeugen aus den Krankenhäusern Oldenburg und Delmenhorst wurden bis heute vernommen – Ärzte, Schwestern und Pfleger.

Glaubwürdigkeit in Frage gestellt

Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft Oldenburg gegen vier damalige Mitarbeiter des Klinikums Oldenburg Verfahren wegen Meineids eingeleitet. Zwei von ihnen arbeiten bis heute im Hause. Außerdem ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen einen Mitarbeiter wegen uneidlicher Falschaussage. Die Mitarbeiter hatten im Prozess vor dem Landgericht Oldenburg ausgesagt und sich bei vielen Fragen des Gerichts nicht erinnern können.

Der Richter glaubte ihnen nicht und vereidigte sie. Tatsächlich hatte Richter Bührmann die betroffenen Zeugen mehrfach zur Ehrlichkeit aufgefordert und Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit geäußert. Da seien Ermittlungen der normale Weg, der häufig beschritten werde, „weil vor Gericht eben viel gelogen wird“, wie Staatsanwalt Martin Koziolek sagt.

Dass die ehemaligen Kollegen von H. nichts von seinen Taten bemerkt oder zwar bemerkt aber nicht reagiert haben, führt Dr. Ruth Hecker, Leiterin der Stabsstelle Qualitätsmanagement und klinisches Risikomanagement am Uniklinikum Essen und stellvertretende Vorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit, „auf eine möglicherweise fehlende Sicherheitskultur“ zurück. „Da traut man sich nicht, Fehler anzusprechen. Wer es dennoch tut, gilt als Querulant“, so Hecker.

Wollten die Mitarbeiter auf der Station in Oldenburg lieber der Konflikt vermeiden als das Patientenwohl durchsetzen? „Auf jeden Fall sind die Pflegenden auf manchen Krankenhausstationen derart unter Druck, dass sie manchmal nicht mehr wissen, was sie tun“, meint Hecker.

„Mancherorts werden zum Beispiel Pflegeschülerinnen, die frisch aus der Ausbildung kommen, ohne Einarbeitung in die Nachtschichten geschickt. Oder im OP wird auf das sonst übliche Team-Time-out verzichtet, und die anwesende OP-Schwester traut sich nicht, es einzufordern.“ Man benötige in der Pflege eindeutig mehr Zeit, mehr Personal und eine bessere Bezahlung, um eine Fehlerkultur besser installieren zu können, so Hecker.

„Aufmerksamkeit und Achtsamkeit“ gefordert

Auch Professor Stefan Görres, Pflegewissenschaftler an der Universität Bremen, fordert, auf den Stationen nicht tayloristisch nebeneinander her zu arbeiten, sondern mit „Aufmerksamkeit und Achtsamkeit“. Es fehle „auf vielen Stationen am Fehlermanagement und wenn es am Fehlermanagement fehlt, fehlt es an Führung“, sagt Görres.

Auch in der Ausbildung von Pflegenden und Ärzten hapere es, was die Fehlerkultur angeht. „Man muss sich eingestehen, dass Fehler täglich zuhauf passieren“, so Görres. „Zwar ist die Patientensicherheit oberstes Gebot, sie wird aber in den Curricula der Ärzte und der Pflegenden kaum vermittelt!“

Deshalb muss die richtige Haltung zu Fehlern in den Organisationen selber gelernt werden, meint er. Das scheint im Krankenhaus Oldenburg seinerzeit nicht stattgefunden zu haben.

Es wäre indessen trotz des Zeitdrucks, trotz der geringen Bezahlung und trotz des Personalmangels ein anderer Umgang in der Pflege möglich, meint Ruth Hecker. „Das merkt man doch sofort, wenn man in ein Krankenhaus mit Fehlerkultur kommt. Da wird im Fahrstuhl gegrüßt, da unterstützen die Pflegenden einander und da herrscht ein freundlicher Ton.“

Whistleblower-System eingeführt

Dirk Tenzer, der heutige Geschäftsführer des Oldenburger Klinikums, müht sich, in seinem Haus eine solche Fehlerkultur zu pflegen, wie er der „Ärzte Zeitung“ sagte. Auch arbeitet das Haus mit einer externen Trauma-Psychologin zusammen – für Angehörige der Mordopfer und Mitarbeiter.

Inzwischen wurde ein Whistleblower-System am Klinikum eingeführt. Den Mitarbeitern werden Resilienz-Trainings angeboten, um die anstrengende Arbeit auf den Stationen ohne seelische Blessuren zu bestehen. Das Haus hat ein Patienten-Beschwerdemanagement eingeführt. Derzeit laufen Pilot-Projekte, wo alle Mitarbeiter einer Station sich regelmäßig treffen und Hierarchie-übergreifend alle Probleme besprechen, um sie schneller zu lösen.

„Wir haben schon längst einen Wandel im Haus hin zu besserem Klima“, sagt Tenzer. „Wir bemühen uns nicht erst seit den Vorwürfen gegen Niels H. darum.“ Die Hemmschwelle, Probleme direkt anzusprechen, sei aber nur sehr schwer zu überschreiten und keine krankenhaus-spezifische Angelegenheit, sondern eine gesellschaftliche, meint Tenzer. Niemand möchte schließlich als Querulant oder misstrauischer Kollege dastehen.

Allerdings – und auch das ist wahr – Vertrauen in die Kollegen würde erst herrschen, wenn man auch sein Misstrauen äußern kann.

  • Das wurde verändert: Das Klinikum arbeitet mit einer externen Trauma-Psychologin zusammen. Sie kann von Angehörigen der Mordopfer, aber auch von Mitarbeitern in Anspruch genommen werden.
  • Einführung eines Whistleblower-Systems
  • Resilienz-Trainings für Mitarbeiter
  • Pilotprojekte, bei dem sich alle Mitarbeiter einer Station regelmäßig treffen und hierarchieübergreifend alle Probleme besprechen.
  • Beschwerdemanagement für Patienten
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