Charity Award-Gewinner
Verein kämpft gegen Stigmatisierung: „Verrückt – na und?“
Seit 25 Jahren setzt sich der Verein „Irrsinnig Menschlich“ aus Leipzig gegen die Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen ein und unterstützt junge Menschen mit Präventionsangeboten in der Schule, an der Uni und am Arbeitsplatz. Der Bedarf ist groß – gerade in Zeiten multipler globaler Krisen.
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Das Programm „Verrückt? Na und!“ besteht im Kern aus jeweils klassenweise durchgeführten Schultagen für Schüler sowie Fortbildungen für Lehrkräfte und weitere Multiplikatoren.
© Irrsinnig Menschlich e.V.
Psychische Erkrankungen sind auch im Jahr 2025 häufig noch ein Tabu in der Gesellschaft. Betroffene gelten als schwach, nicht belastbar, im schlimmsten Fall vielleicht sogar „verrückt“ – und aus Angst vor Stigmatisierung verschweigen viele ihr Leiden lieber, und das teils jahrelang.
Dem Verein „Irrsinnig Menschlich“ zufolge beginnen bis zu 80 Prozent aller psychischen Krisen und Erkrankungen bereits in Kindheit, Jugend oder im jungen Erwachsenenalter.
Wenn Betroffene früh genug Hilfe bekommen, lässt sich also nicht nur sehr viel Leid ersparen, sondern auch das Gesundheitssystem entlasten. Genau dafür setzt sich der im Jahr 2000 in Leipzig gegründete Verein seit nunmehr 25 Jahren ein.
„Damals gab es weltweit eine Bewegung, die von Psychiaterinnen und Psychiatern ausgegangen ist, um Stigmata und Ängste gegenüber Menschen, die an einer psychischen Erkrankung leiden, zu verringern“, blickt Dr. Manuela Richter-Werling, Gründerin von „Irrsinnig Menschlich“, zurück.
Die promovierte Historikerin war damals noch als Journalistin tätig und hat zur Stigma-Forschung recherchiert. Das Thema sollte sie nicht mehr loslassen und zu ihrer Lebensaufgabe werden.
„Wir haben dann sehr schnell gemerkt, wir müssen bei den jungen Leuten anfangen, nicht erst im Erwachsenenalter. Doch die vielen Daten und Fakten, die wir heute über die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen vorliegen haben, waren damals noch gar nicht bekannt.“
Immer im Tandem unterwegs
Es war also von Anfang an ein Herantasten und auch ein Ausprobieren neuer Ansätze nötig. Dabei kristallisierte sich schnell das Tandem-Prinzip heraus, das bis heute das Erfolgsrezept von „Irrsinnig Menschlich“ ist: Gearbeitet wird immer in einem Team aus fachlichen Experten – also etwas Ärzten oder Psychologen – und ehrenamtlichen persönlichen Experten, die selbst bereits psychische Krisen gemeistert haben und von ihren Erfahrungen berichten können.
Damit gab es Ende der 90er-Jahre bereits Erfolge etwa in Australien und Kanada, schildert Richter-Werling. Schwerpunkt war damals die Aufklärung über Schizophrenie. „Doch nach dem Arztbesuch in der Schule oder in der Uni hatten plötzlich alle Symptome von Psychosen – es hat sich übertragen und die Ängste haben sich eher verstärkt.“
In einer anderen Gruppe wurden Ärzte gemeinsam mit Menschen, die selbst an Psychosen gelitten haben, zu den jungen Menschen geschickt. „Da ging es also ums Leben, nicht nur um die Krankheit“, fasst Richter-Werling zusammen.
„Und da war die Reaktion: Ihr müsst viel öfter in unsere Klassen kommen, es ist so spannend, was ihr uns vom Leben zu erzählen habt. Diesen Ansatz nutzten wir für uns als Blaupause.“
Warum ein „Augenzwinkern“ hilft
Alle Angebote sind bewusst niedrigschwellig und nähern sich dem ernsten Thema psychische Erkrankungen durchaus auch mit einem Augenzwinkern, wie etwa der Name des Schulprogramms „Verrückt? Na und!“ zeigt. Kindgerechte Informationen und Unterstützung hätte sich auch Anna Feuerbach in ihrer Schulzeit gewünscht.
Sie kam 2018 ehrenamtlich als persönliche Expertin zu „Irrsinnig Menschlich“, hat also selbst schon seelische Krisen gemeistert und gibt ihre Erfahrungen seither aus erster Hand an junge Betroffene weiter.

Anna Feuerbach, seit 2018 ehrenamtlich als persönliche Expertin für „Irrsinnig Menschlich“ aktiv.
© Irrsinnig Menschlich e.V.
Inzwischen ist sie beim Verein fest angestellt und betreut unter anderem das Programm „Psychisch fit studieren“. „Ich hatte zwei Krankheitsphasen in der Vergangenheit, die erste war noch während der Schulzeit. Da hatte ich vor allem das Problem der völligen Unkenntnis. Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen, da spielte so etwas keine Rolle“, erzählt sie.
„Darüber wurde nicht gesprochen, auch nicht in der Schule. Und es hat einfach ganz, ganz lange gedauert, bis ich und meine Familie überhaupt begriffen haben, was da los ist und zu welchem Arzt man da geht.“ Dadurch sei viel Zeit verloren gegangen.
Ihre zweite Krankheitsphase hatte sie während ihrer Doktorarbeit. „Da hatte ich das Wissen zum Glück schon, aber da ist dann tatsächlich dieses große Problem des Stigmas aufgetreten. Ich dachte, in meiner privilegierten, akademischen Situation steht es mir gar nicht zu, krank zu sein.“ Es sei eine riesige Hürde gewesen, sich Hilfe zu suchen.
Nachdem es ihr besser ging, reifte der Entschluss, ihr Wissen und ihre Erfahrungen an junge Menschen in ähnlichen Situationen weiterzugeben. „Es war für mich ein richtiger Durchbruch, als ich zum ersten Mal in einer Schulklasse saß und die Möglichkeit hatte, zu erzählen, wie es mir ergangen ist. Das war für mich und auch meinen ganzen Genesungsprozess total wichtig.“
Verein kooperiert mit über 70 Unis
Anna Feuerbach und ihr Team von „Psychisch fit studieren“ sprechen heute in Foren mit den Studierenden über Zahlen, Daten, Fakten und mögliche Warnsignale psychischer Erkrankungen, aber auch über persönliche Ressourcen und möglicherweise bereits bestehende Hilfesysteme an den Hochschulen.
Die Gespräche finden vor Ort in den Hörsälen oder auch digital statt, um möglichst viele zu erreichen. Mittlerweile kooperiert „Irrsinnig menschlich“ mit mehr als 70 Universitäten und Hochschulen im ganzen Land.
Auch nach einem Vierteljahrhundert wächst der Verein weiter. Inzwischen gibt es 139 Standorte in Deutschland, Österreich, der Slowakei und Tschechien. Derzeit ist eine Vertretung in der Westukraine im Aufbau, wo viele Geflüchtete und Menschen mit Kriegserfahrung leben. Traumata sind dort weit verbreitet, das sei natürlich eine ganz andere Herausforderung und man müsse sehr behutsam vorgehen, sagt Richter-Werling.
Doch globale Kriege, Krisen und damit verbundene Zukunftsängste drücken auch in Deutschland auf die Psyche junger Menschen, weiß Dr. Michael Kroll, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Helios Park-Klinikum Leipzig und fachlicher Experte bei „Irrsinnig Menschlich“.
„Häufig haben wir es mit diffusen Erkrankungsbildern und diffusen Ängsten zu tun, aber auch mit Depressionen, Essstörungen, Suizidgedanken. Auch Aggressivität spielt eine große Rolle.“
Dies schlage sich sogar im Wahlverhalten vieler junger Menschen nieder: „Das ist ein gesellschaftliches Phänomen, eine Abkopplung von Menschen, die sich nicht mehr als Teil eines Miteinanders erleben. Aggressivität kann Ausdruck dieser Abkopplung sein.“
Hinzu kommt die immer komplexer werdende digitale Welt: „Der Digitalraum ist auch dadurch für Kinder und Jugendliche besonders gefährlich, weil wir Erwachsenen dort so entwicklungsrückständig sind, also häufig keine Ahnung haben, wie wir Kinder gut unterstützen und schützen“, sagt Kroll.
Auch die Gesetzgebung hinke hier hinterher, mahnt er: „Wir erleben ja gerade schon, dass der digitale Raum mit all seinen Gefahren auch die Grundfundamente unserer Demokratie und unserer seelischen Gesundheit auskoppeln kann.“
Studien belegen Wirkung
Dass die Angebote von „Irrsinnig Menschlich“ wirken, ist wissenschaftlich belegt. Die Ergebnisse einer Studie an der Universität Leipzig zeigen: Das Schulprogramm „Verrückt? Na und!“ erhöhte das Wissen von Kindern und Jugendlichen rund um die psychische Gesundheit massiv, führte zu weniger Angst und Vorurteilen und mehr Selbstvertrauen.
Durch den Abbau von Hindernissen beim Zugang zu Unterstützungssystemen können auch die Kosten für das Gesundheitssystem gesenkt werden. Das hat eine Studie von McKinsey und Ashoka Deutschland untersucht und ein Einsparpotenzial von 80 Millionen Euro für jeden Prozentpunkt an erkrankten Schülern errechnet, die sich in einem Jahrgang nach der Teilnahme am Programm in frühzeitige Behandlung begeben haben.
„Irrsinnig Menschlich“ wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt im vergangenen Herbst mit dem ersten Platz beim „Springer Charity Award“. Preise wie dieser sind wichtig, um die Angebote noch bekannter zu machen, denn neben öffentlichen Zuwendungen sind Spenden die wichtigste Einnahmequelle des Vereins, um seine Arbeit auch in Zukunft fortführen zu können.
Dr. Manuela Richter-Werling, die 2023 sogar das Bundesverdienstkreuz erhalten hat, hat sich 2024 aus der Geschäftsführung zurückgezogen, bleibt dem Verein aber als Strategische Beraterin erhalten. „Irrsinnig Menschlich“ befindet sich also im 25. Jahr seines Bestehens mitten im Generationenwechsel.
„Der größte Antrieb waren für mich immer die Rückmeldungen von den jungen Menschen, die gesagt haben: Sie müssen in alle Schulklassen in ganz Deutschland gehen“, blickt die Gründerin zurück. „Darauf bin ich sehr, sehr stolz, das hat uns immer voran geschoben. Und ich denke, das lohnt sich.“