Midterm-Wahlen in den USA

Wahlkampf-Reise mit Irritationen

Die USA vor und nach der Wahl um Mehrheiten in Senat und Repräsentantenhaus in Washington: Eindrücke eine Reise durch ein Land, das zuweilen ratlos macht.

Christoph FuhrVon Christoph Fuhr Veröffentlicht:
Treuer Trump-Fan: der Republikaner Ron DeSantis, wohl bald neuer Gouverneur von Florida, mit Gattin .

Treuer Trump-Fan: der Republikaner Ron DeSantis, wohl bald neuer Gouverneur von Florida, mit Gattin .

© Stephen M. Dowell / ZUMAPRESS

BOSTON. Meine Begegnung mit Erika dauert kaum mehr als drei Minuten. Sie dürfte etwa 68 Jahre alt sein, trägt ein Namensschild, wirkt sehr gepflegt und sitzt an der Kasse eines Outdoorgeschäfts irgendwo im Niemandsland des riesigen US-Bundesstaates New York.

Ich habe im Shop eine Jacke gefunden, die ich bezahlen möchte. Erika erkennt meine Herkunft sofort an meinem deutschen Akzent. In Bayern hat sie vor 40 Jahren einen amerikanischen Soldaten kennengelernt, ist mit ihm in seine Heimat übergesiedelt.

„Haben Sie die Entscheidung jemals bereut?“, will ich wissen und entschuldige mich gleich, weil die Frage zu indiskret ist. Sie lacht. Es habe schwere Zeiten gegeben, sagt sie dann nachdenklich, aber sie stehe zu ihrer Lebensplanung.

Ich verabschiede mich und bin irritiert. Erika hat ein optisches Defizit, das ich sofort wahrgenommen habe: Sie besitzt nur noch einen einzigen Frontzahn.

Das ist mir schon zwei Tage vorher bei einer älteren Frau aufgefallen, die an der Rezeption eines Hotels in den Bergen von Vermont arbeitet. Auch bei ihr konnte ich nur zwei Frontzähne entdecken.

10.000 US-Dollar Eigenleistung

Wie kann das sein? Medicare, die Krankenversicherung für ältere Menschen, hat mit der zahnärztlichen Versorgung ihrer Klientel nicht viel am Hut.

Die Kaiser Family Foundation hat in einer Studie vor zwei Jahren nachgewiesen, dass die allermeisten Medicare-Patienten Zahlungen für Kronen, Implantate oder ähnliche Sanierungsmaßnahmen massiv überfordern.

Die Eigenleistung kann leicht bei über 10.000 Dollar liegen. Ich bin kein Hellseher, aber eines scheint mir klar: Wäre Erika in Deutschland geblieben, würde sie heute mit sanierten Zähnen durchs Leben gehen.

Ich bin schon oft in den USA unterwegs gewesen. Dass die Reise in diesem Jahr unmittelbar in der Zeit der sogenannten Midterm-Wahlen stattgefunden hat, ist aber reiner Zufall.

Vor Ort kann ich mich der besonderen Dynamik dieser Wahlentscheidung nicht entziehen. Der Kampf um die Mehrheit findet vor allem über die TV-Sender statt.

In der Schlussphase des Wahlkampfs setzt Präsident Donald Trump losgelöst von Inhalten auf pure Emotion. Im Trump wohlgesonnenen TV-Sender Fox diskutieren (vermeintliche) Experten in epischer Breite, welche gefährlichen Krankheiten Flüchtlinge, die derzeit aus Mittelamerika in Richtung USA unterwegs sind, ins Land einschleppen könnten.

In einem heftig diskutierten Werbespot aus dem Trump-Lager, den ich mir abends irritiert in einem Hotelzimmer anschaue, wird in perfider Weise ein Zusammenhang hergestellt – zwischen einem illegal eingewanderten Mexikaner, der in den USA zwei Polizisten ermordet hat und den Flüchtlingen aus Mittelamerika.

Attribut: rassistisch, wie hinterher große Fernsehanstalten kritisieren.

Strampelhose mit Schriftzug „Make America Great Again!“

Ein TV-Video erregt meine Aufmerksamkeit, bei dem ich mich wirklich frage, ob der Initiator noch alle Tassen im Schrank hat. Es ist der Republikaner Ron DeSantis, am vergangenen Dienstag neu gewählter Gouverneur von Florida.

In einem vor der Wahl produzierten Werbevideo stellt Rons Ehefrau mit strahlendem Blick klar, dass ihr Gatte nicht nur von Trump unterstützt werde, sondern auch ein toller Vater sein.

Die folgenden Szenen erinnern ein wenig an Zeiten, in denen Chinas Kinder schon im Babyalter auf den großen Führer Mao Tse Tung eingeschworen wurden. Mit seiner knapp zweijährigen Tochter baut DeSantis zunächst eine Mauer aus Plastiksteinen (Einblendung: „The wall“) und erklärt ihr dann, wie man im Stil Trumps im forschen Ton „you are fired!“ sagt.

Im Babybett liegt derweil der nur wenige Monate alte DeSantis-Filius mit Strampelhose und einer klaren Botschaft auf der Brust: „Make America Great Again!“ Noch ist das Endergebnis nicht amtlich, weil es in Florida eng gewesen ist und dort die Stimmen der Gouverneurswahl zur Sicherheit ein zweites Mal gezählt werden.

Doch alles deutet derzeit darauf hin, dass der Republikaner DeSantis den demokratischen Amtsinhaber Andrew Gillum in die Wüste geschickt hat.

Dabei war doch die Kernbotschaft der Wahlen genau umgekehrt: Die Demokraten gewinnen die Mehrheit im Repräsentantenhaus, weil viele Wähler gerade mit Blick auf ihre Krankenversicherung erkannt haben, dass die Demokraten auch für die Zukunft von Obamacare stehen.

Strammer Lakai Trumps

Vor diesem Hintergrund muss die Wahl von DeSantis verblüffen. Als Mitglied des Repräsentantenhauses war er ein strammer Lakai Trumps und Frontkämpfer, der bei den Versuchen, Obamacare plattzumachen, immer in vorderster Linie stand.

Geschadet hat es ihm nicht – obwohl gerade im Bundesstaat Florida viele Wähler von Obamacare profitieren, das bekanntlich im Kern zwei Inhalte hat: US-Bürger sind verpflichtet, eine Krankenversicherung abzuschließen, wenn sie nicht durch den Arbeitgeber abgesichert sind.

Versicherungsunternehmen wiederum müssen jeden Patienten annehmen – ohne Gesundheitsprüfung und ohne Angaben zu Vorerkrankungen.

Dass sich die Amerikaner so schwer tun mit einem System, das auf Absicherung basiert, hat sicher etwas mit der historisch gewachsenen Wertewelt des Landes zu tun: Jeder ist seines Glückes Schmied.

Auf puritanisch-christlichem Fundament steht die Leistungsideologie. Bist du erfolgreich, dann hast du es verdient und wirst von Gott geliebt, bist du es nicht, ist es dein eigenes Verschulden.

Der Staat hat sich in diesem Denksystem herauszuhalten und vor allem nicht den Erfolgreichen ihren „wohlverdienten Lohn“ wegzunehmen, um den „Versagern“ etwas davon zukommen zu lassen. Eine „Zwangsversicherung“ wird als Bevormundung und sozialistische Ideologie gesehen.

Es gibt Amerikaner, die auf Solidarität setzen

Ich erinnere mich an ein Interview, das ich vor etwas 25 Jahren mit dem im vergangenen Jahr gestorbenen deutschstämmigen Gesundheitsökonomen Professor Uwe Reinhardt in seiner Heimatuniversität Princeton geführt habe.

Reinhardt, überzeugt vom deutschen Solidarprinzip, war gerade in ein Expertenkomitee berufen worden, das für den damaligen Präsidenten Bill Clinton eine Reform vorbereiten sollte.

Ziel schon damals: eine Krankenversicherung für alle US-Bürger. Während unseres Gesprächs kam in seinem Büro ein Fax an, das er mir mit breitem Lächeln zeigte. Die Anschrift: An den Kommunisten Uwe Reinhardt.

Immerhin: Es gibt in den USA durchaus Menschen, die auf Solidarität setzen. Am Tag der Wahl steht vor einem Wahllokal in Princeton im Bundesstaat Rhode Island eine einsame Frau mit einem Schild im strömenden Regen, um für eine unabhängige Bürgermeisterkandidatin zu trommeln.

Sie heißt Jill und sagt mir, dass sie nichts von den großen Parteien halte, sie seien unehrlich und produzierten leere Phrasen. Jill setzt auf Werte wie Empathie und Solidarität mit Menschen, die im sozialen Abseits stehen.

Und genau für diese Werte stehe die Bürgermeisterkandidatin Anne Witman. Jills Einsatz im Regen ist am Ende vergebens. Die Kandidatin verliert die Wahl.

„Lass uns zum Schießstand gehen!“

Ich habe bei meinen Reisen durch die USA zuweilen irritierende Erlebnisse. In einem Strandcafé bei Galveston an der Südküste von Texas komme ich im Sommer letzten Jahres ins Gespräch mit Bob, der lange in Deutschland stationiert war.

Bob ist Polizist in einem kleineren Nachbarort von Galveston. Obamacare interessiere ihn wenig, räumt er auf Nachfrage ein, weil er im Dienste des Staates stehe und selbst gut krankenversichert sei.

Er hegt für mich offenbar genauso viel Sympathie wie für Donald Trump („der tut etwas für uns“) und macht mir einen bizarren Vorschlag: „Lass nun doch rüberfahren in meinen Heimatort zum Schießstand. Wir haben supermoderne Waffen und könnten ein wenig herumballern, das macht Spaß“.

Ich lehne ab, bedanke mich höflich und setze mich ins Auto. Im Radio ertönt Willi Nelsons Ohrwurm „On the road again“. Schnell weg von hier, denke ich. Amerika, es reicht mal wieder.

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