Medizin-Nobelpreis 2014

Wie der Navigationscomputer im Gehirn funktioniert

Warum finden wir nachts im Dunkeln das Bad? Oder kommen in fremden Gegenden mithilfe des Stadtplans zurecht? Die diesjährigen Medizin-Nobelpreisträger haben entschlüsselt, welche Prozesse im Gehirn stattfinden, wenn wir uns orientieren.

Von Angela Speth Veröffentlicht:
Gitterzellen im entorhinalen Kortex zusammen mit jenen Zellen, die die Richtung des Kopfes und die Grenzen des Raumes erkennen, bilden Netzwerke mit den Ortszellen des Hippocampus. Diese Schaltkreise erzeugen ein umfassendes Positionssystem, ein "inneres GPS" im Gehirn. Dieses Navi wurde bei Ratten entdeckt, aber allen Anzeichen nach besteht der Ortssinn beim Menschen aus denselben Komponenten.

Gitterzellen im entorhinalen Kortex zusammen mit jenen Zellen, die die Richtung des Kopfes und die Grenzen des Raumes erkennen, bilden Netzwerke mit den Ortszellen des Hippocampus. Diese Schaltkreise erzeugen ein umfassendes Positionssystem, ein "inneres GPS" im Gehirn. Dieses Navi wurde bei Ratten entdeckt, aber allen Anzeichen nach besteht der Ortssinn beim Menschen aus denselben Komponenten.

© Mattias Karlén/Karolinska-Institut

NEU-ISENBURG. Jeder kennt das: Man wacht nachts auf und tapst selbst im Dunkeln zielsicher ins Bad. Oder findet als Tourist die berühmte Kathedrale problemlos per Stadtplan, der in Planquadrate aufgeteilt ist - Beispiele dafür, was unser Ortssinn leistet.

Dessen Mechanismen haben die diesjährigen Medizin-Nobelpreisträger aufgeklärt und damit nicht bloß scheinbar banale Hirnleistungen beleuchtet, sondern zugleich den Ursprung des abstrakten Denkens.

Das Konzept der "kognitiven Landkarte" stellte 1948 der US-Psychologe Edward Tolman auf. Er hatte Ratten durch ein Labyrinth laufen lassen, um zu klären, ob sie ihre Orientierung "behavioristisch" durch bloßes Verhalten erwerben oder durch übergeordnete kognitive Prozesse.

Wo die mentalen Karten entworfen und abgespeichert werden, fand 1971 John O'Keefe durch Entdeckung der Hippocampus-Ortszellen: Diese geben Signale ab, wenn sich die Nager einer Landmarke, etwa ihrem Futternapf, nähern.

Die Bedeutung des Hippocampus erwies sich an einem Epilepsiepatienten, dem nach einer Resektion die räumliche Vorstellung fehlte.

Auch Alzheimer-Patienten fallen oft zuerst durch häufiges Verirren auf, denn die Neurodegeneration beginnt im Hippocampus.

Jedoch war O'Keefe klar, dass die Zellen dieser Region ihre Ortsberechnungen nicht selbst machen, sondern lediglich ein "intelligentes Display" darstellen.

Ortszellen und Rasterzellen

Erst 2005 gelang es May-Britt und Edvard Moser nachzuweisen, dass der "Navigationscomputer" im benachbarten entorhinalen Cortex liegt. Dazu hatten sie bei einer Ratte die obere Ortszellschicht mikrochirurgisch vom unteren Teil abgetrennt.

Die Ortszellen feuerten wie zuvor - Indiz dafür, dass sie von der Großhirnrinde gespeist werden. Kandidat war der entorhinale Cortex. Drei kooperierende Neuronentypen bewerkstelligen dort die Orientierung.

Das norwegische Forscherpaar entdeckte als Erste die Rasterzellen (Grid Cells). Sie teilen den Raum in ein Koordinatensystem aus Längen- und Breitengraden, wodurch er in Planquadrate aufgeteilt wird wie ein Stadtplan.

Wann immer die Ratte einen Knotenpunkt erreicht, veranstalten die Rasterzellen ein "Feuerwerk". Der Theorie zufolge messen sie die Zahl der Schritte und somit die Abstände.

2008 identifizierten die Norweger Grenzzellen (Border Cells), die Signale senden, wenn die Tiere auf große Hindernisse wie Wände stoßen.

Schon 1985 hatte man die Kopfrichtungszellen (Head Direction Cells) gefunden, die als Kompass dienen. Sie bewirken, dass sich die mentalen Landkarten bei Kopfwendungen blitzschnell mitdrehen.

Die Erkenntnisse basieren auf ausgefeilter Sensortechnik: Fasermikroelektroden, dünner als ein Haar, ermöglichen es, bis zu 186 Nervenzellen gleichzeitig und damit die funktionale Organisation zu studieren.

Ortsgefühl ist eine hirneigene Leistung

Wichtig war außerdem der interdisziplinäre Ansatz aus Physik, Mathematik, Programmierung, Statistik, Psychologie, Neurophysiologie und -biologie, so eine Mitteilung zum Körber-Preis, mit dem das Forscherpaar kürzlich ebenfalls geehrt wurde.

So wiesen sie nach, dass die Feuerorte der Rasterzellen über das Gehege verteilt liegen, wenn die Ratte frei herumläuft, an Zwischenpositionen bleiben sie stumm.

Dabei konzentrieren sich die Signale zu Kugeln, horizontal in gleichmäßigen Abständen angeordnet, die Reihen darunter und darüber jeweils auf Lücke, so dass drei benachbarte Kugeln ein Dreieck bilden.

Einige Rasterzellen feuern bereits, wenn sich die Ratte nur einige Zentimeter weiterbewegt hat; die Zellen mit dem gröbsten Raster hingegen senden erst Signale, wenn die Abstände in der Größenordnung von Metern liegen.

Rasterzellen mit jeweils ähnlichem Feuerort-Abstand vereinen sich dabei zu funktionalen Modulen. Interessanterweise wächst die Raster-Skala von Modul zu Modul um ziemlich genau den Faktor 1,42, der Quadratwurzel aus der Zahl Zwei.

Das Gehirn konstruiert also eine geometrische Reihe, und möglicherweise handelt es sich eine neue Naturkonstante. Die Rasterzellen feuern sogar, wenn der Nager in bekanntem Gehege im Dunkeln herumläuft - das Ortsgefühl hängt dann also nicht von optischen Reizen ab, sondern ist eine hirneigene Leistung.

Diese Orientierungsgabe scheinen auch indigene Menschen noch zu besitzen, etwa die Inuit, die sich bei Märschen durch die arktische Eiswüste derart perfekt zurechtfinden, dass es in ihrer Sprache nicht einmal ein Wort für "sich verirren" gibt.

Das innere Navi wird ständig aktualisiert, wie sich etwa durch Verstellen von Trennwänden nachweisen ließ. Und es ist evolutionsgeschichtlich offenbar uralt - einleuchtend, weil die Nahrung nicht zu uns kommt, sondern wir sie finden müssen. Weitere Ergebnisse sprechen für eine starke genetische Komponente.

Das bestätigt die These, die der Philosoph Immanuel Kant in seiner "Kritik der reinen Vernunft" von 1871 aufgestellt hat: dass der Raum ein vorbewusstes Konstrukt des menschlichen Geistes sei.

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