Vor 25 Jahren

Der Kompromiss, die Pflegeversicherung und die Baustelle

Mit Tricks und parlamentarischen Finten erreichte Sozialminister Norbert Blüm vor 25 Jahren sein Ziel: Die gesetzliche Pflegeversicherung konnte 1995 starten. Doch Blüms „fünfte Säule“ ist selbst altersschwach. Sicher ist nur: Es wird teurer.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:
Sozialminister Norbert Blüm bei der Abstimmung am 22. April 1994 im Bundestag .

Sozialminister Norbert Blüm bei der Abstimmung am 22. April 1994 im Bundestag .

© Michael Jung

Am Ende machte sich im Bundestag Erschöpfung breit: Der Tagesordnungspunkt 5 „Pflegeversicherungsgesetz“ wurde am 22. April 1994 in wenigen Minuten abgehandelt. Eine Woche später stimmte auch der Bundesrat zu. Damit stand die fünfte Säule der Sozialversicherung – mit allen Strukturproblemen, die auch 25 Jahre später den Bundestag beschäftigen. Krank und pflegebedürftig zu sein, bedeutete damals für drei von vier Betroffenen, den Weg in die Sozialhilfe antreten zu müssen.

Dies sei „ein guter Tag für diejenigen, die auf dieses Gesetz warten“, rief der damalige Sozialminister Norbert Blüm (CDU) in den Plenarsaal. „Für die Unternehmer“, schallte es von dem PDS-Abgeordneten Ilja Seifert zurück.

Die Entstehungsgeschichte der Pflegeversicherung war spektakulär – bei dem Gesetzgebungsmarathon wurde allein dreimal der Vermittlungsausschuss angerufen. Blüm kämpfte um das Gesetz mit allen verfügbaren Geschäftsordnungstricks. „Die Leiche war mehrfach im Grab und ist in letzter Sekunde noch mal rausgeholt worden“, erinnerte sich Blüm im „Deutschlandfunk“.

Der Streit ging aber auch quer durch die schwarz-gelbe Koalition. Der ehemalige Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP) entzog sich der Parteiräson und stimmte gegen das Gesetz. Er hielt die Kompensation der steigenden Arbeitskosten durch die Streichung eines Feiertags – des Buß- und Bettags – für unzureichend.

SPD wehrt Eingriff in die Tarifautonomie ab

Für die SPD hingegen trat Verhandlungsführer Rudolf Dreßler mit breiter Brust ans Rednerpult: „Die Leistungen der Pflegeversicherung sind angemessen. Die Finanzierung solide.“ Wichtig war für die Sozialdemokraten vor allem, dass der Versuch von Arbeitgebern und FDP, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zur Gegenfinanzierung anteilig zu kürzen, abgewehrt werden konnte. „Die Tarifautonomie bleibt unangetastet“, konnte Dreßler vermelden.

Sozialminister Blüm warnte schon am Tag der Verabschiedung des Gesetzes vor zu hohen Erwartungen: „Die Pflegeversicherung ersetzt nicht die Hilfsbereitschaft; sie stützt sie und schützt sie vor Überforderung.“ Für ihn sei „eine verwirklichte Pflegeversicherung tausendmal besser als ein nicht realisiertes Ideal“. 25 Jahre später sind die Strukturprobleme aus der Geburtsstunde der Pflegeversicherung nur zum Teil aufgearbeitet worden:

  • Pflegebegriff: Der Abgeordnete Konrad Weiß von den Bündnisgrünen warnte, die Einteilung in drei Pflegestufen „entspricht nicht dem Stand der wissenschaftlichen und praktischen Erkenntnis“. Auch sah er damals 465.000 Personen „ausgegrenzt“, die mehrfach pro Woche Hilfe benötigen, für die in der neuen Pflegeversicherung aber kein Leistungsanspruch definiert wurde. Es sollten 21 Jahre vergehen, bis hier nachgebessert wurde: Durch einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, der jenseits der „Satt und Sauber“-Pflege die große Gruppe der demenziell Erkrankten besser berücksichtigen soll. Zuvor war 2013 die Pflegestufe Null eingeführt worden.
  • Finanzierung: Der neue Pflichtbeitrag für die Pflege – ein Prozent ab 1. Januar 1995 und 1,7 Prozent ab 1. Juli 1996 – spülte zunächst mehr Geld in die Kassen, als an Leistungen abgerufen wurde. Doch schon ab 1999 kippte das Verhältnis, sodass die dahin angesammelten Rücklagen von mehr als acht Milliarden DM beansprucht wurden. Seit Anfang 2019 beläuft sich der Beitragsanteil für die Pflege auf 3,05 Prozent. Damit hat sich die große Koalition Zeit gekauft und hofft bis 2022 auf stabile Finanzen.

Doch das Ursprungsmotiv der Pflegeversicherung – Armutsvermeidung – bestimmt immer stärker die Debatte: Bei bis zu 1800 Euro, die Heimbewohner pro Monat selber zahlen müssen, kommt die Teilkaskoversicherung offenbar an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Dies auch deswegen, weil nicht alle Beteiligten ihre Hausaufgaben gemacht haben: „Die Finanzierung der Investitionskosten (für die stationäre Pflege, d. Red.) obliegt den Ländern“, hieß es im März 1994 im Kompromisspapier von Union, SPD und FDP. Die Länder sind dieser Verpflichtung nie im gebotenen Umfang nachgekommen – an ihrer Stelle bestimmen nun private Investoren das Bild.

  • Demografie: Nimmt man an, dass sich die Prävalenzen für den Eintritt der Pflegebedürftigkeit nicht verändern, so ist 2020 mit rund 3,6 Millionen Pflegebedürftigen zu rechnen, 2030 mit knapp 4,2 Millionen. Zugleich wird sich das Verhältnis von Älteren zu Erwerbspersonen dramatisch verändern: Im Jahr 2013 kamen auf eine Person, die 67 Jahre oder älter ist, 3,4 Erwerbstätige. Im Jahr 2030 werden es noch 2,3 sein. Bei einer Geburtenrate von knapp 1,5 Kindern pro Frau schrumpft der Bevölkerungsanteil der unter 65-Jährigen stetig. Selbst unter günstigsten Annahmen werden daher die Pflegeausgaben pro Kopf stärker zunehmen als das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. 25 Jahre nach seiner Verabschiedung steht der gesetzlichen Pflegeversicherung der Härtetest mit Blick auf Generationengerechtigkeit und gesellschaftliche Solidarität erst noch bevor.
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