Interview

"Die Lebensqualität muss zum zentralen Parameter werden"

Die Diskussion um den Pharmadialog 2.0 startet: Mit einem Positionspapier wirft der CDU-Bundestagsabgeordnete Tino Sorge nicht nur die Big-Data-Frage auf. Im Interview erklärt er, warum er für ein "Pay for Performance"-Modell bei den Arznei-Erstattungsbeträgen plädiert.

Rebekka HöhlVon Rebekka Höhl Veröffentlicht:
Bundestagsmitglied Tino Sorge ist Berichterstatter der CDU/CSU-Fraktion für E-Health und Gesundheitswirtschaft.

Bundestagsmitglied Tino Sorge ist Berichterstatter der CDU/CSU-Fraktion für E-Health und Gesundheitswirtschaft.

© Alle Rechte beim Dt. Bundestag

Ärzte Zeitung: Herr Sorge, Ihre Ideen zur künftigen Preisbildung bei Arzneimitteln lesen sich ein bisschen wie Zuckerbrot und Peitsche: Auf der einen Seite soll der volle Preis nur bei vorhandenem Behandlungserfolg erstattet werden, auf der anderen Seite sollen Forschungs- und Entwicklungskosten besser eingepreist werden. Wie passt das zusammen?

Tino Sorge: In der Arzneimittelpolitik brauchen wir zweierlei: Anreize für Spitzenforschung und -entwicklung, die ja zu einem bedeutenden Teil auch in Deutschland stattfindet. Mit förderlichen Rahmenbedingungen müssen wir dafür sorgen, dass solche Innovationstreiber auch zukünftig am Standort Deutschland gehalten werden.

Andererseits muss es begrenzende Elemente geben, die die Kosten für die Versichertengemeinschaft in einem maßvollen Verhältnis halten und dem tatsächlichen Nutzen des jeweiligen Medikaments gerecht werden. Angesichts kommender Krebstherapien mit Preisen jenseits der 300.000 Euro lohnt es sich darum, mit "pay for performance" frischen Wind in die Erstattungsdebatte zu bringen.

Können heutige Arznei-Studien überhaupt sinnvoll diesen Behandlungserfolg nachweisen? Stichwort Lebensqualität … auch die soll nach Ihren Vorstellungen ja künftig stärker in die Nutzenbewertung einfließen.

Tino Sorge

Privat: Geboren am 4. März 1975 in Ilmenau, verheiratet.

Ausbildung: Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Jena, Halle und Lyon, Erstes und Zweites Juristisches Staatsexamen

Politik: 1993 bis 2012 Mitglied der Jungen Union, seit 1995 Mitglied der CDU

Mitglied des Bundestages: Seit 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages (direkt gewählt im Wahlkreis Magdeburg). Seit 2018 Mitglied im Vorstand der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

Schwerpunkte: Ordentliches Mitglied des Gesundheitsausschusses und Berichterstatter für Digitalisierung (Telematik, elektronische Gesundheitskarte) und Gesundheitswirtschaft der CDU/CSU-Bundestags- fraktion.

Sorge: So mancher Patient sieht den "Behandlungserfolg" primär darin, dass er sein Leben möglichst lange im angestammten Umfeld der Familie verbringen kann – frei von den kraftzehrenden und psychisch belastenden Strapazen einer Therapie, die das Leben manchmal nur noch um wenige Wochen verlängert.

Darum setze ich mich dafür ein, dass wir neue Erfassungsmethoden für die Lebensqualität von Patienten fördern – unabhängig von den Studien der Hersteller.

Fordern Sie da nicht zu viel vom Instrument Nutzenbewertung? Bzw. wird das die Verfahren nicht zusätzlich aufblähen?

Sorge: Weder die Politik noch der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) werden solchen unbequemen Fragen und ethischen Abwägungen auf Dauer aus dem Weg gehen können. Die Lebensqualität des Patienten muss, davon bin ich überzeugt, zu einem zentralen Parameter in der Nutzenbewertung werden.

Und sollten der GBA, seine Mitglieder oder das IQWiG dafür mehr Personal oder eine bessere Finanzausstattung benötigen, so wäre das ernsthaft zu diskutieren.

Bei den Mischpreisen sprechen Sie von einer Nachschärfung … was genau schwebt Ihnen vor?

Sorge: Das AMNOG war von Beginn an als "lernendes System" konzipiert – und das sollte die Preisbildung mit einschließen. Die Abgrenzung zwischen Subgruppen, Fallzahlen und Therapiekosten ist mit der heutigen Methodik deutlich präziser möglich als noch 2011.

Darum sollten wir durchaus überlegen, ob wir als Gesetzgeber die Preisbildung in einzelnen Indikationen durch zielsicherere Mechanismen verbessern möchten, die zwischen Subgruppen differenzieren. Entscheidungen durch Gerichte können auf Dauer nicht die Lösung sein.

Auf Ihrer Ideenliste stehen auch strengere Regeln für Orphan Drugs in der Nutzenbewertung. Könnte das nicht die Forschung auf einem ohnehin eher vernachlässigten Gebiet – den seltenen Erkrankungen – zusätzlich schwächen?

Sorge: Es geht nicht um strengere, sondern vor allem um gerechtere Regeln. Wo echte therapeutische Fortschritte erreicht werden, müssen die damit verbundenen Forschungs- und Entwicklungsaufwände weiterhin erstattet und schneller Zugang für Patienten ermöglicht werden.

Auf der anderen Seite benötigen wir aber auch einen pragmatischen Ausgleich gegenüber den Tendenzen einzelner Hersteller, mit dem Orphan-Status verbundene Privilegien primär zum Marktzugang und für die bloße Ertragsoptimierung auszunutzen.

Sie sehen im geplanten Arztinformationssystem ein Instrument für eine qualitativ hochwertige Versorgung. Bei Ärzten ist es indes umstritten. Wie berechtigt ist die Sorge, dass damit Regresse zunehmen und die Therapiefreiheit eingeschränkt wird?

Sorge: Bei neuen Arzneimitteln gilt: Niedergelassene Ärzte verordnen Medikamente ohne anerkannten Zusatznutzen genauso häufig wie solche mit Zusatznutzen. Letztere erreichen die Versorgung oft nur spät. Hier sehe ich ein latentes Informationsdefizit, und genau dort wollen wir ansetzen.

Selbstverständlich darf daraus mit Blick auf Regresse keine Drohkulisse erwachsen. Mir geht es um die Information des Arztes, nicht um dessen Entmündigung, und erst recht nicht um eine finanziell motivierte Verordnungssteuerung.

Sie fordern auch für Gesundheits-Apps eine Nutzenbewertung. Qualitätsstandards sind hier ohne Zweifel wichtig, aber wie sorgen Sie dafür, dass diese Bewertung neue Technik nicht eher blockiert? – ich sage nur Telematikinfrastruktur

Sorge: Problematisch finde ich, dass es keine Prüfung gibt, ob eine App im Store von Apple oder Google die medizinischen Erfordernisse erfüllt, um auch wirklich eine sinnvolle Ergänzung der Gesundheitsversorgung darzustellen. Stattdessen vertrauen wir oft auf User-Bewertungen und die Werbeversprechen der Anbieter.

Bei Spielen und Musik mag das ausreichen – für Gesundheits-Apps aber fordere ich mehr Gewissheit, dass die Anwendung sicher ist, einen signifikanten Nutzen hat, laientauglich ist und nötigenfalls mit Updates versorgt wird. Praktikabel wäre ein freiwilliges Gütesiegel im Rahmen eines Expressverfahrens.

Es könnte Mindeststandards in puncto Sicherheit und Nutzen zertifizieren, und zum Beispiel auch mit einer Selbstverpflichtung des Entwicklers einhergehen, den Support für mindestens zwei Jahre aufrechtzuerhalten. Nutzer hätten dadurch mehr Sicherheit.

Sie haben auch Preisbildungsmechanismen für die Apps ins Gespräch gebracht … halten Sie das in einem so schnelllebigen Markt wie der IT für sinnvoll. Und drohen medizinisch wertvolle Apps dann nicht doch durch Google abgehängt zu werden?

Sorge: Viele von uns wünschen sich, dass Gesundheits-Apps mit evidentem Nutzen in Zukunft auch von der Krankenkasse bezahlt werden. Dafür brauchen wir aber auch eine Regelung, die den Versicherten, den Kassen wie auch innovativen App-Entwicklern Gewissheit darüber verschafft, in welcher Höhe diese Erstattung ausfallen könnte.

In diesem Jahr haben wir oft über die hohen Kassenreserven gesprochen. Denkbar wäre es für mich, neben den geplanten Beitragssenkungen einen Teil der Kassenüberschüsse in zweckgebundene "Digitalbudgets" zu überführen. Versicherte könnten so die Möglichkeit erhalten, die Nutzung zertifizierter Apps bis zu einem bestimmten Jahresbetrag über die Kasse abzurechnen.

Sie wollen, dass Gesundheitsdaten besser zugänglich für die Forschung werden. Nach wie vor gibt es in Deutschland aber nicht einmal eine funktionierende sektorübergreifende Patientenakte. Wie gut stehen da die Chancen für ein gemeinsames Big-Data-Konzept?

Sorge: Zunächst müssen wir unsere Angst vor Big Data überwinden. Und das geht am einfachsten, indem man sich die Chancen für die Gesundheitsversorgung von morgen vor Augen führt – beispielsweise in der Diagnostik, bei Krebsregistern oder Tumordatenbanken, die mit Hilfe künstlicher Intelligenz auch seltenste Krebserkrankungen verstehen und behandeln helfen.

In Australien ist dieses aktive Gestalten der digitalen Versorgung Alltag: Seit 2009 werden dort Gesundheitsdaten in einem staatlich geförderten, akteursübergreifenden Netzwerk zusammengeführt. Anonym und ethisch kontrolliert werden sie der Forschung zugänglich gemacht. Für mich hat dieses Modell Vorbildcharakter und könnte auch in Deutschland diskutiert werden.

Wie wollen Sie hier die Ärzte als wichtige Stakeholder abholen?

Sorge: Allzu gern berufen sich die Spitzenverbände auf das hohe Gut der Selbstverwaltung. Wenn sie sich dann aber wieder einmal festgefahren haben, wird in höchster Not nach gesetzlichen Eingriffen der Politik gerufen.

Darum freut es mich, dass ich mit der Ärzteschaft seit Jahren einen konstruktiven und streitbaren Austausch pflege – und zwar in aller Regel so, dass es gar nicht erst zu Interventionen des Gesetzgebers kommen muss. Daran werden wir in dieser Legislatur anknüpfen, denn ob in Arzneimittelfragen oder bei der Digitalisierung: Die Ärzte stehen mit an vorderster Front.

Pharmadialog 2.0: So könnte die Neuauflage aussehen

Damit die Neuauflage des Pharmadialogs Früchte trägt, sollten nach Meinung von Tino Sorge, Berichterstatter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für E-Health und Gesundheitswirtschaft, vier Kernfragen geklärt werden – zu denen er auch schon ganz konkrete Ideen hat:

1. Wie erschließen wir die Chancen der Digitalisierung für die Forschung?

Der Gesundheitswirtschaft müsse die Nutzung und Weiterverarbeitung von Daten für die Arzneimittelforschung und -entwicklung erleichtert werden, soweit die Betroffenen einwilligen, die Daten anonymisiert oder pseudonymisiert sind.

Zudem brauchten Apps, die die Arzneimittelversorgung begleiten eine zügige, pragmatisch ausgestaltete Nutzenbewertung und nötigenfalls einen Preisbildungsmechanismus.

Wie entwickeln wir die frühe Nutzenbewertung weiter?

Die Lebensqualität des Patienten muss zum zentralen Parameter für den Zusatznutzen eines Arzneimittels werden, fordert Sorge, das gelte insbesondere für die Onkologie. Dazu gehöre die Diskussion, wie sich Lebensqualität in Studien verlässlicher messen und dokumentieren lässt.

Orphan drugs genießen laut Sorge im AMNOG-System durch ihre Sonderstellung (Zusatznutzen gilt mit Zulassung als belegt) Vorteile. Um Fehlanreize zu vermeiden, sollten sie strengeren Anforderungen hinsichtlich einzureichender und nachträglich zu bewertender Daten unterliegen, sagt der CDU-Abgeordnete. Zur Beschleunigung von Nutzenbewertungsverfahren schlägt er die Bündelung von Verfahren für gleichartige Arzneimittel oder Therapielinien vor.

Die EU-weite Vereinheitlichung der Nutzenbewertung hält er zwar für einen Rückschritt. Dennoch müsse erörtert werden, wie die formalen Anforderungen für Hersteller EU-weit so angepasst werden könnten, dass unnötige Doppelarbeit und Bürokratie abgebaut werden kann, sagt er.

Wie gestalten wir Preisbildung und Erstattungsmodelle zukunftssicher aus?

Die Erstattung neuer Arzneimittel sollte sich laut Sorge deutlich stärker am tatsächlichen Behandlungserfolg orientieren. Nach dem Prinzip "pay for performance" sollten teure neue Medikamente nur bei erfolgreicher Behandlung oder Heilung vollständig erstattet werden. Gleichzeitig sollten Forschungs- und Entwicklungskosten innovativer Arzneimittel transparenter in die Preisbildung einbezogen werden.

Sorge räumt ein, dass die Rechtsprechung zur Mischpreisbildung von Unsicherheiten begleitet war. Damit die Beteiligten auf klare Rahmenbedingungen vertrauen können, müsste die Regierung hier nötigenfalls nachschärfen.

Wie halten wir die Versorgung wirtschaftlich und qualitativ auf hohem Niveau?

Die Verfügbarkeit versorgungskritischer Arzneimittel sei weiter abzusichern, indem die Ad-hoc-Meldepflicht bei Lieferengpässen für Hersteller mit Sanktionen bewehrt und ausgeweitet wird, schlägt Sorge vor. Meldungen sollten nicht nur Krankenhäuser, sondern stets auch die Krankenkassen, Großhändler, und niedergelassenen Apotheken erreichen.

Das Arztinformationssystem könnte Ärzten seiner Ansicht nach Übersicht über verfügbare Medikamente, deren Nutzen und Kosten verschaffen. Zur Ausgestaltung sollten aber gleichermaßen Meinungsbilder der Industrie, Ärzte- und Kassenseite eingeholt werden.(reh)

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