Die Zeiten verstaubter Theoretiker sind vorbei

Seit einem Jahr ist Professor Ferdinand Gerlach Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin. Seitdem setzt sich die positive Entwicklung der Fachgesellschaft weiter rasant fort.

Raimund SchmidVon Raimund Schmid Veröffentlicht:
Ein Mann mit hohem medizinischen und gesundheitspolitischem Sachverstand: Professor Ferdinand Gerlach.

Ein Mann mit hohem medizinischen und gesundheitspolitischem Sachverstand: Professor Ferdinand Gerlach.

© Uni Frankfurt

Prof. Ferdinand Gerlach

Aktuelle Position: Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin an der Uni Frankfurt

Werdegang / Ausbildung: Studium der Medizin an der Universität Göttingen, Public Health Studium in Hannover

Karriere: 1998 Habilitation, 2001 bis 2004 Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin an der Uniklinik Schleswig-Holstein, seit 2007 Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen

Nur einige wenige Zahlen verdeutlichen, wie sehr sich die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) im Aufwind befindet. Von Mitte 2004 bis Mitte 2011 konnte die DEGAM ihre Mitgliederzahlen von 1420 auf 4100 fast verdreifachen.

Allein in den vergangenen beiden Jahren ist die DEGAM um 1300 Neumitglieder gewachsen. Im Jahr 1999 war das Fach Allgemeinmedizin erst an sieben von 26 medizinischen Fakultäten in Deutschland mit einer Professur vertreten. Im Jahr 2010 waren bereits an 18 Universitäten Abteilungen oder Institute für Allgemeinmedizin mit einer echten Professur etabliert.

Reaktionszeiten wurden erheblich verkürzt

An elf weiteren Uni-Standorten konnten jüngst erste Strukturen für das Fach Allgemeinmedizin durch die Einstellung wissenschaftlicher Mitarbeiter aufgebaut werden. Und auch die Tage der Allgemeinmedizin - eine Fortbildungsreihe der DEGAM - werden mittlerweile an elf Unis angeboten. Inhalt: Praxisnahe Fortbildung von Hausärzten für Hausärzte und das gesamte Praxisteam.

Die Bilanz kann sich also durchaus sehen lassen, die Professor Ferdinand M. Gerlach nach einem Jahr als DEGAM-Präsident präsentiert. Allerdings stellt der Direktor des Frankfurter Instituts für Allgemeinmedizin klar, dass diese Erfolge nicht alle in einem Jahr und schon gar nicht von ihm allein erreicht werden konnten.

Aber die DEGAM sei in letzter Zeit "produktiver, sichtbarer und aktueller" geworden, ohne dabei ihre Wurzeln als unabhängige und wissenschaftliche Fachgesellschaft aufzugeben. So hat sie es zum Beispiel geschafft, innerhalb von kurzer Zeit eine Kurz-Leitlinie (S1) zu EHEC/HUS herauszugeben, die evidenzbasierte und praxiserprobte epidemiologische und klinische Informationen für den Hausarzt aufbereitet hat.

Weitere 15 Leitlinien hat die DEGAM mittlerweile in ihrem Repertoire, zuletzt zu den Themen Demenz, Nackenschmerzen, Halsschmerzen und Brustschmerz. Weitere - etwa zu Alkoholproblemen, Schwindel oder zum Geriatrischen Assessment - werden derzeit entwickelt.

Gerlach hält die DEGAM-Leitlinien deshalb für besonders praxistauglich, weil sie nicht alles enthalten, was "medizinisch maximal möglich" ist, sondern Augenmaß halten, aber dennoch auf hohem wissenschaftlichem Niveau erstellt werden. So wird in den Leitlinien auch schon einmal vor Überdiagnostik, Übertherapie oder schlichtweg vor überflüssigen Behandlungen gewarnt.

Doch nicht nur bei den Leitlinien konnte sich die DEGAM weiter professionalisieren. Eindeutig Stellung bezogen hat sie zuletzt auch zu den Kodierrichtlinien, zum so genannten Quereinstieg in die Allgemeinmedizin, zur Subspezialisierung in der Medizin und zum benötigten Bedarf an Medizinstudienplätzen.

Bei der Gesundheitspolitik hält Gerlach sich zurück

Möglich geworden sind solche, für eine wissenschaftliche Fachgesellschaft erstaunlich zeitnahe Positionierungen, durch eine "Professionalisierung in jede Richtung". Seit einiger Zeit ist zum Beispiel die im Frankfurter Institut für Allgemeinmedizin angesiedelte Geschäftsstelle an allen Wochentagen erreichbar. Zudem wollten wir "weg vom Image der angestaubten Theoretiker, die mit der Hausarztpraxis nicht viel gemein haben", sagt Gerlach.

Weitgehend heraushalten will er sich dagegen weiter aus der Gesundheits- und der Berufspolitik, für die primär der Hausärzteverband zuständig ist. Als politisch denkender und - im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen - auch politisch handelnder Experte, fällt dies Gerlach mitunter nicht leicht.

Versorgungsfragen und das Vertragsgeschäft sieht er dennoch beim Hausärzteverband besser aufgehoben. Die DEGAM sieht Gerlach hier allenfalls in der Rolle des Zulieferers, wenn es zum Beispiel darum geht, Qualitätsindikatoren zu entwickeln und diese in Hausarztverträge einzubauen.

Was bisher fehlt ist ein Nachwuchskonzept für die DEGAM: Daran will Gerlach nun bis zum Jahreskongress der Fachgesellschaft Ende September in Salzburg feilen und hofft, dort ein umfassendes Konzept verabschieden zu können. Falls dies gelingt, dürfte die DEGAM auch für junge Allgemeinmediziner interessant werden.

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Kommentare
Dr. Jürgen Schmidt 08.09.201112:30 Uhr

Wirklich toll ?

Das Fach Allgemeinmedizin entwickelt sich ! Auch in die richtige
Richtung?

Ein Blick in die Leitlinien mag weiter helfen.

Es fehlen in den Kurzfassungen dezidierte Hinweise auf zwingende Beratungsanlässe und notwendige Kooperationen mit den anderen Fachärzten.

Die Langfassungen der Leitlinien "Nackenschmerzen" (99 Seiten), "Brennen beim Wasserlassen" (115 Seiten) stoßen mit Sicherheit an die Grenzen des in dieser Form Darstellbaren. Wer liest das?

Zudem findet man bei flüchtiger Durchsicht der Kurzfassungen Therapieempfehlungen (z.B. bei bestimmten Schmerzsyndromen, auch "Nackenschmerzen" Paracetamol und NSAR), denen man nicht immer folgen mag.

Kritischer ist die Therapieempfehlung Nitrofurantoin beim akuten Harnwegsinfekt zu betrachten, jedenfalls von der Deutschen Arzneimittelkommission (2007): "Bei Beachtung der oben angeführten Anwendungsbeschränkungen ist die Gabe von Nitrofurantoin nur in
seltenen Fällen indiziert."

In diesen Details spiegelt sich nicht nur begrenztes Fachwissen,
sondern auch die gelegentlich unglücklich erscheinende (Über)Betonung einer besonderen Identität des Faches, die offensichtlich dem berufspolitischen Anspruch als Hausarzt geschuldet ist.

Die DEGAM (übrigens in früheren Zeiten jahrelang von einem
Internisten geführt) sollte sich nicht nur verbal vom
Hausarztverband absetzen, sondern die Grenzen des Faches deutlicher und enger ziehen und die notwendige Kooperation mit anderen Fächern angemessen betonen.
Dann klappt''s auch mit den anderen Fachgesellschaften und der Anerkennung durch die Hochschulen.

Soweit der Ratschlag eines Internisten.

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