Jubiläen

Die wechselhafte Geschichte zweier Ärztekammern

Gegründet in Zeiten tiefen Elends: Die Ärztekammer Hamburg startete 1895. In Schleswig-Holstein drängten die britischen Besatzer 1945 darauf, eine Körperschaft zu bilden. Zwei Historien im Überblick.

Dirk SchnackVon Dirk Schnack Veröffentlicht:
Hamburgs Ärztekammer-Präsident Dr. Pedram Emami sieht die Kammer als Institution in einer wichtigen Rolle an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Gesellschaft.

Hamburgs Ärztekammer-Präsident Dr. Pedram Emami sieht die Kammer als Institution in einer wichtigen Rolle an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Gesellschaft.

© Michaela Illian Michaela Illian

Hamburg/Bad Segeberg. Die beiden Ärztekammern im Norden blicken im Juni 2020 auf wichtige Gründungsdaten zurück. Vor 125 Jahren wurde in der Hansestadt die Ärztekammer Hamburg gegründet.

Vor 75 Jahren war die Ärztekammer Schleswig-Holstein die erste bundesweit, die sich unmittelbar nach der deutschen Kapitulation erneut organisieren konnte. Beide Ereignisse konnten wegen der Corona-Pandemie nicht gefeiert werden. In ihren jeweiligen Ärzteblättern zeigen die Landesärztekammern aber, warum die Gründungen zu den damaligen Zeitpunkten wichtig waren und welche Bedeutung Ärztekammern heute für die gesamte Gesellschaft haben.

9000 Cholera-Tote in Hamburg

Hamburg im Jahr 1892: Die Cholera wütet in der Hansestadt. Die beengten Wohnviertel am Hafen und das warme Wasser der Fleete bieten dem Erreger ideale Bedingungen. Die von Kaufleuten beherrschte Stadt reagiert viel zu spät, zahlreiche Menschen fallen der Epidemie zum Opfer.

„Die desaströse Bilanz von fast 9000 Choleratoten in Hamburg war Zeugnis einer überkommenen Regierungs- und Verwaltungsstruktur der Stadt, in der Seilschaften des hanseatischen Großbürgertums die Handelsinteressen regelten“, schreibt Historikerin Dr. Anna von Villiez im „Hamburger Ärzteblatt“ über die damalige Situation.

Die Ärzteschaft hatte zu dieser Zeit nur eine schwache Stimme über einen Verein mit geringem Einfluss. Ärztliche Berater wurden von der Politik auserwählt, von der Ärzteschaft legitimierte Vertreter gab es nicht. Eine Lehre aus der Epidemie damals war, dass der Einfluss der Ärzteschaft gestärkt werden musste. Drei Jahre später, im Jahr 1895, gründete sich die Ärztekammer Hamburg.

„Im Zuge dieser Epidemie wurde deutlich, wie wichtig die unabhängige Tätigkeit der Ärzteschaft war, um unter anderem zukünftig solche Katastrophen zu vermeiden“, schreibt der aktuelle Hamburger Kammerpräsident Dr. Pedram Emami. Damit verweist er auf einen entscheidenden Unterschied zur heutigen Situation: „Diesmal steht ärztliche Expertise im Zentrum öffentlichen Interesses und politischen Handelns.“

„Zuverlässiger Partner des Senats“

Das heißt für Emami nicht, dass heute alles richtig gemacht wurde. Aber: Die aktuellen Herausforderungen – neben Corona auch die Folgen des medizinischen und technologischen Fortschritts – erfordern nach seiner Meinung eine freie Ärzteschaft, die ihren Beruf unabhängig von politischen und wirtschaftlichen Interessen ausüben kann.

„Als Garant dafür muss ganz klar das Prinzip der Selbstverwaltung stehen“, fordert Emami und erhält dafür Unterstützung vom Ersten Bürgermeister der Stadt, Dr. Peter Tschentscher. Er ist selbst Arzt und Mitglied der Ärztekammer. Für den Politiker ist die Ärztekammer „zuverlässiger Partner für den Hamburger Senat“, sie „bringt die Positionen der Hamburger Ärzteschaft in die Gestaltungsprozesse im Gesundheitswesen ein“, wie Tschentscher schreibt.

Emami hält Ärztekammern längst für unverzichtbar. Er sieht die Institution an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Gesellschaft in einer wesentlichen Rolle: „Sie wird übersetzen, erklären und vermitteln müssen, um genau die Balance herzustellen zwischen dem notwendigen Maß an inhaltlichem Sachverstand und gesellschaftlicher Einfühlsamkeit.“

Schleswig-Holstein, Juni 1945: Zum Ende des Zweiten Weltkriegs kommen Massen von Vertriebenen in das Land zwischen Nord- und Ostsee. Die Infrastruktur ist zusammengebrochen, die Menschen hungern und suchen nach einem Dach über dem Kopf. Infektionskrankheiten breiten sich aus, ohne dass eine organisierte Gesundheitsversorgung stattfindet.

Die britische Besatzungsmacht ahnt, welche Folgen das haben wird und entschließt sich, Ärzte unverzüglich mit der Bildung einer Ärztekammer zu beauftragen. Historiker Dr. Karl-Werner Ratschko beschreibt in einem Artikel für das „Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt“, welche Hürden Ärzte für diese Gründung überwinden mussten und wie schnell die neue Selbstverwaltung mit der Politik aneinander geriet.

Kammer beschreibt „Not und Elend“ im Jahr 1947

Hintergrund ist die eskalierende Versorgungs- und Gesundheitslage. „Not und Elend haben in Deutschland ein kaum zu überbietendes Ausmaß angenommen“, schreibt der Vorstand der Ärztekammer zum Beispiel im Jahr 1947. Die Medien griffen die Kammer-Schilderungen über Säuglingssterblichkeit, nicht ausführbare Narkosen, überbelegte Kliniken, Zunahme von Tuberkulose und Diphtherie und fehlende Medikamente und Desinfektionsmittel auf – was die damalige Landesregierung empfindlich traf.

„Derartige Veröffentlichungen sind nicht geeignet, den Aufbauwillen zu stärken, sondern höchstens zu vollster Resignation zu führen“, beschied Landesgesundheitsminister Kurt Pohle (SPD) der Ärztekammer.

Die ließ sich jedoch nicht beirren, sondern verstärkte ihre Kommunikation auch innerhalb der Ärzteschaft und etablierte sich als unabhängige Standesvertretung.

Erste Kammerpräsidentin 1982 gewählt

Meilensteine waren neben der Gründung eines eigenen Versorgungswerkes, eines Ombudsvereins und einer Bildungseinrichtung die Wahl der ersten Frau in einer Landesärztekammer zur Präsidentin. Dr. Ingeborg Retzlaff wurde 1982 an die Spitze gewählt und setzte in ihrer zwölfjährigen Amtszeit Akzente auf Bundesebene. Signalwirkung hatte auch der Beschluss, mit dem die Kammer im Norden als erste bundesweit den Weg für eine Beratung und Behandlung ausschließlich über Kommunikationsmedien frei machte.

Der heutige Kammerpräsident Dr. Henrik Herrmann hält „klare Positionierungen in freiberuflichen und ethischen Fragestellungen“ durch die Ärztekammer für unverzichtbar und sieht ärztliche Selbstverwaltung als bewährt an.

Um Forderungen von politischer Seite, die Kammern als veraltet oder starr schildern, entgegenzutreten, müssen sich Kammern nach seiner Ansicht ständig neu bewähren. Das gilt für ihn besonders in Fragen der Fort- und Weiterbildung, in der Beziehung zwischen Arzt und Kammer und beim Rollenverständnis zwischen Arzt und Patient.

Lob vom Ministerpräsidenten

Gegenwind von der Politik – wie etwa im Jahr 1947 – gibt es für die Kammer zum Jubiläum nicht. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) bescheinigte der Kammer mit Hinweis auf die aktuelle Pandemie „unverzichtbar“ zu sein: „Das Prinzip der Selbstverwaltung hat sich bewährt und bewährt sich auch in der aktuellen Krise.“

Für Politik, Verwaltung, Krankenkassen und Einrichtungen und Verbände sei die Kammer längst wichtiger Ansprechpartner. Dass das allein nicht reicht, zeigen Statements junger Ärzte, die die Kammer zum Jubiläum befragt hatte. Die wünschen sich, dass die Kammer öffentlich stärker „zeigt, was sie kann und leistet“ und zu neuen Formaten findet, die einen engeren Austausch mit ihnen erlaubt.

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