AOK-Fehlzeitenreport

Dienstanrufe in der Freizeit machen krank

Wissenschaftler der AOK schlagen Alarm: Ständig für den Chef erreichbar zu sein, kann psychische Erkrankungen fördern. Sie fordern klare Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:
Es birgt gesundheitliche Risiken, wenn es regelmäßig vorkommt, dass das Firmenhandy beim Abendessen klingelt.

Es birgt gesundheitliche Risiken, wenn es regelmäßig vorkommt, dass das Firmenhandy beim Abendessen klingelt.

© nistor razvan / iStockimage

BERLIN. Die Wege zur Arbeitsstelle werden für immer mehr Menschen immer länger, das Firmenhandy klingelt beim Abendessen, Familienväter arbeiten auch am Wochenende, junge Mütter ersticken am Stress, Beruf und Kindererziehung unter einen Hut zu bringen.

Die wachsende Flexibilisierung der Arbeitswelt berge Chancen für die Lebensgestaltung, aber auch jede Menge gesundheitlicher Risiken, stellte der stellvertretende Leiter des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO), Helmut Schröder, am Donnerstag in Berlin fest. Anlass war die Vorstellung des AOK-Fehlzeitenreports 2012.

Der stellt fest, dass sich der klassische, von der Stechuhr bestimmte Büroalltag in einem Zustand ständiger Erreichbarkeit und fortwährendem Auf-dem-Sprung-sein auflöse.

Jeder Dritte erhält dienstliche Anrufe außerhalb der Arbeitszeit

Eine Befragung von 2000 AOK-Versicherten hat ergeben, dass mehr als jeder dritte Erwerbstätige in den vier Wochen vor der Befragung häufig dienstliche Anrufe und E-Mails außerhalb der Arbeitszeit erhielt. Ebenfalls jeder Dritte leistete in dieser Zeit Überstunden.

Mehr als jeder zehnte Arbeitnehmer nahm sich Arbeit mit nach Hause und arbeitete an Sonn- und Feiertagen. Gleichzeitig ergab die Umfrage auch, dass jeder achte Beschäftigte private Pläne zugunsten der Arbeit umgeworfen hatte und nun darunter leide.

"Flexibilität braucht klare Schranken", kommentierte Schröder die Ergebnisse des Fehlzeiten-Reports. Auch wenn er einen direkten Zusammenhang zwischen der Flexibilisierung und der Zunahme psychischer Erkrankungen nicht belegen kann, hält er ihn doch für möglich.

Fast jeder Zehnte der knapp elf Millionen AOK-Versicherten war 2011 wegen eines seelischen Leidens krankgeschrieben. Seit 1994 habe die Zahl der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen um 120 Prozent zugenommen.

Psychische Erkrankungen hätten mit durchschnittlich 22,5 Ausfalltagen mehr als doppelt so lange gedauert wie andere Erkrankungen mit rund elf Tagen je Fall im Jahr 2011, sagte Schröder.

Burn-out auf dem Vormarsch

Die Diagnose Burn-out hat auch unter den AOK-Versicherten zugenommen. Von einer Volkskrankheit will Schröder dennoch nicht sprechen.

2011 habe es bei den AOK-Versicherten 40.000 Burn-out-Fälle gegeben. Dies seien aber nur 0,3 Prozent der rund 13 Millionen AOK-Krankschreibungen gewesen.

"Hausärzte haben oft ein gutes Gespür dafür, ob psychosomatische Beschwerden und Erschöpfungsdepressionen von Patienten mit der Arbeit zusammenhängen." Dies stellt Professor Andreas Krause aus Olten in der Schweiz im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung" fest.

Krause hat im AOK-Fehlzeitenreport einen Beitrag über die "interessierte Selbstgefährdung" geschrieben. Gemeint ist damit das bewusste Arbeiten über die Belastbarkeitsgrenzen hinaus.

Die einzelnen Branchen sind unterschiedlich stark von Krankschreibungen wegen psychischen und Verhaltensstörungen betroffen. Der Report zeigt, dass 2011 Helfer in der Krankenpflege am häufigsten krankgeschrieben waren.

Mehr als 18 Prozent der Pflegehelfer waren mit einer solchen Diagnose krank. Im Schnitt fehlten sie je Fall länger als 25 Tage.

Ein anderes Bild ergibt sich bei den Ärzten. Die bei der AOK versicherten Mediziner fehlten im gleichen Zeitraum im Schnitt lediglich sieben Tage wegen seelischer Leiden.

Die Ortskrankenkassen haben für die Behandlung psychischer Erkrankungen im vergangenen Jahr rund 9,5 Milliarden Euro ausgegeben.

Straßenreiniger am häufigsten krank

Insgesamt ist 2011 der Krankenstand unter den AOK-Mitgliedern im Vergleich zum Vorjahr leicht auf 4,7 Prozent gesunken.

Die meisten der insgesamt 140 Millionen Krankheitstage fielen laut dem Report zu 23,1 Prozent wegen Muskel- und Skeletterkrankungen an, gefolgt von den Atemwegserkrankungen, die rund 12,4 Prozent ausmachten. Verletzungen schlugen mit 12,3 Prozent zu Buche.

Straßenreiniger und Abfallbeseitiger waren am häufigsten krank, gefolgt von den Mitarbeitern in öffentliche Verwaltung und bei Sozialversicherern. Eher selten meldeten sich die Angestellten in der Finanzbranche krank.

Lesen Sie dazu auch: Interview mit Professor Krause: "Mitarbeiter täuschen Gesundheit vor" (Nur für Fachkreise)

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